Fotoserie zu Zwangsprostitution

Auf der Suche nach Milch und Honig

Die Fotografin Lea Bräuer beschäftigt sich in einem Buchprojekt mit Elends- und Zwangsprostitution auf der Kurfürstenstraße in Berlin. Eine Spurensuche zwischen Neugierde, Poesie und harter Realität

Lea Bräuer, was interessiert Sie an Elends- und Zwangsprostitution?

Meine Schwester erzählte mir von einer Freundin, die sieben Jahre lang in der Elendsprostitution war. Sie ist ausgerissen und war am "Babystrich" in Berlin in der Zoo-Gegend. Da war sie 16, oder sogar erst 15, auf jeden Fall minderjährig. Es hat mich interessiert, was sie in der Zeit erlebt hat. Deshalb habe ich sie interviewt. Im diesem Zuge habe ich zur Elendsprostitution recherchiert. Elendsprostitution begegnet einem nicht so offensichtlich im Stadtbild, aber wenn man dann in der Ecke Kurfürstenstraße unterwegs ist, sieht man es schon.

Der Begriff der Sexarbeit wird häufig als neutrale Bezeichnung für eine Dienstleistung gewählt, bei der eine Person sexuelle Dienste für andere anbietet. Prostitution wird gemeinhin jedoch mit dem notgedrungenen Verkauf des eigenen Körpers in Verbindung gebracht. Aus welchem Grund wählen Sie für Ihr Projekt den Begriff der Prostitution?

Bei der Recherche habe ich festgestellt, dass der Begriff der Sexarbeit von neoliberalen Feministinnen verwendet wird, wenn Sexarbeit "gewollt" oder "freiwillig" ist. Und alles andere würden sie als unfreie Sklaverei bezeichnen. Wenn man dann sieht, dass ungefähr 80 bis 90 Prozent der sexuellen Dienstleistungen, obwohl Zahlen wegen der Dunkelziffern ohnehin schwierig sind, in einem fragwürdigen Selbstbestimmtheitsverständnis stattfinden und die anderen zehn bis 20 Prozent meistens westliche weiße Frauen sind, ist eine Vermischung der Begriffe schwierig. Es wäre daher sinnvoller zu sagen, dass Prostitution "unfreiwillig" und Sexarbeit die selbstbestimmtere Tätigkeit ist. Die Arbeit der Frauen, die ich auf der Kurfürstenstraße kennengelernt habe, hat nichts mit Selbstbestimmtheit zu tun. Daher habe ich mich gegen den Begriff Sexarbeit entschieden.

Der Titel "Wo Milch und Honig fließt" als Anspielung auf das paradiesische "gelobte Land" ist metaphorisch stark aufgeladen. Weshalb setzen Sie diesen Begriff in Bezug zu Deutschland?

Ich habe den Titel aus einem Interview mit einer ehemaligen Zwangsprostituierten. Sie hat gesagt, für sie sei Deutschland der Ort gewesen, wo Milch und Honig fließe. Das ist genau das, was dieses ganze Projekt eigentlich umklammert: dieser Wunsch, diese Traumvorstellung, dass es irgendwo ein besseres Leben gibt. Und wie die Frauen sich dann auf den Weg machen. Sei es durch Zwang, zum Beispiel durch Cousins oder durch Loverboy-Methoden, oder durch die bewusste Entscheidung, in Deutschland zu arbeiten. Ohne zu wissen, worauf sie sich wirklich einlassen.

Wie sind Sie bei der fotografischen Arbeit an Ihrem Projekt vorgegangen?

Mein Ziel war eigentlich, Porträts zu machen. Aber jetzt ist kein einziges Porträt in der Arbeit. Ich habe die Frau getroffen, die sieben Jahre lang in der Beschaffungsprostitution gearbeitet hat, sie war damals drogenabhängig, was leider sehr oft passiert in dieser Form von Prostitution. Ich habe dann schnell gemerkt, dass ich diese Frauen nicht porträtieren kann. Ich wollte kein Leid zeigen. Bei Facebook scrollt man über so viel Leid, so viele Themen, die einen fast nicht mehr berühren. Ich wollte, dass man die Geschichten auf eine andere sensible Art und Weise erzählt.

Wie sind Sie dann zu Ihren Motiven gekommen?

Ich bin immer wieder zur Kurfürstenstraße gegangen und über Zigaretten-Stummel mit pinkem Lippenstift gestolpert. Im Affekt habe ich einen eingepackt und zu Hause fotografiert. Das erinnert an ein Beweisstück, es sind aber eher Fundstücke als Beweise. Diese Zigarettenstummel haben so viel davon erzählt, was ich die ganze Zeit versuchen wollte zu erzählen. Dann habe ich immer so weiter gemacht, habe Fundstücke eingesammelt und zu Hause fotografiert.

Wurden Sie manchmal beobachtet?

Beim ersten Mal, als ich dort auch Fotos gemacht habe, ist mir tatsächlich ein Wagen mit verdunkelten Scheiben gefolgt. Da habe ich schon etwas Schiss bekommen. Für die Fundstücke bin ich weitere Male dorthin gegangen, dann aber in Begleitung von einem großgewachsenen Freund.

Die Fotografien von der Balkanroute zeigen verlassene Landstriche, Grenzübergänge, triste Wohnblocks und Parkplätze. Wir sehen keine Menschen, nur Autos oder menschliche Hinterlassenschaften. Sind Sie den Menschen auf der Spur?

Es war schon eine Art Spurensuche. Aber mit einer gewissen Vorsicht gesagt, denn ich habe nicht so viel gefunden. Ich bin die Balkanroute abgereist, um mir ein Bild von den Heimatländern der Frauen zu machen, die auf der Kursfürstenstraße arbeiten. Viele kommen aus Bulgarien, Ungarn und Rumänien. Aber ich kannte noch niemanden, deshalb konnte ich nicht in die persönlichen Herkunftsregionen der Frauen fahren. Man sieht aber zum Teil, welche Grenzübergänge viele der Frauen überqueren mussten, um in Deutschland oder anderen zentraleuropäischen Ländern arbeiten zu können.

Welche Aspekte spielten bei der Auswahl Ihrer Motive auf der Balkanroute eine Rolle?

Alle Fotografien, die in irgendeiner Form etwas behaupten wollten, habe ich rausgeschmissen. Natürlich habe ich Korruption und Armut gesehen. Es war schon alles spürbar, doch haben die Bilder das nicht transportiert. Ich kam von außen einfach nicht dahinter. Deswegen habe ich mich auf den Traum-Aspekt fokussiert. Es ging mir um das Grundgefühl vor Ort. Natürlich sind Motive wie der Müllberg dabei, der auch wieder an die Objekte auf der Kurfürstenstraße erinnert. Aber im Grunde genommen erzählen die Bilder vom Träumerischen. Was haben Frauen damals gedacht, als sie sich nach Deutschland aufgemacht haben? Oder an was denken sie, wenn sie zurückblicken?

In detektivischer Manier haben Sie die Fundstücke mit Blitz frontal von oben abfotografiert. Dadurch wirken sie sehr konträr zu den recht träumerischen Fotografien, die Sie auf der Balkanroute angefertigt haben.

Dieser fast schon zu romantische Aspekt der Balkan-Bilder, bei denen man ja fast schon an Reise-Reportage oder Reisefotografie denkt, an Instagram-Landschaften, die man jetzt so einfach posten könnte, wird bewusst gebrochen durch die abschreckend brutale Ehrlichkeit der Fundstücke. Der Teil zeigt sehr klar und fast schon beweisartig die Realität, die ich auf der Kurfürstenstraße vorgefunden habe.

Und was bedeutet dieser stilistische Widerspruch für Sie?

Den mittleren Teil, der die träumerischen Fotografien von der Balkanroute zeigt, verstehe ich als gedanklichen Einschub, sozusagen in Klammern gesetzt. Im ersten und im letzten Kapitel sind Fundstücke abgebildet. Man entdeckt dort auch immer neue Hinweise, wie zum Beispiel eine bulgarische Zigarettenpackung. Es sind ganz unterschiedliche Fundstücke dabei. Teilweise sind das Alltagsgegenstände, teilweise auch spezifische und auch abstoßende Objekte wie zum Beispiel Spritzsets oder Tupfer mit Blut. Oder sowas wie benutzte Kondome. Weil das einfach alles dort war. Auf die Fundstücke verweise ich nochmals im Glossar mit Beschreibungen dessen, was abgebildet ist, falls man nicht direkt erkennt, um was es sich handelt.

In Ihrem Fotobuch sind Zitate von Sexarbeiterinnen eingebunden, die aus ihrem Leben erzählen.

Ich wollte die romantischen Traumlandschaften der Balkanroute mit den Zitaten der Frauen durchbrechen. Ein Spiel mit Traum und Realität. Was die Frauen wohl auch immer wieder begleitet. Durch die Zitate kommt zu meiner Außensicht auch zum gewissen Grad eine von innen dazu.

Was hat Sie zu der Entscheidung bewogen, auch Zitate von Freiern in Ihr fotografisches Projekt einzubeziehen?

Man zeigt ja schon sehr oft den Part der Frauen, aber oft wird der andere Part, der der Männer, nicht aufgezeigt. Doch die spielen ja eine große Rolle in der Elends- und Zwangsprostitution, sonst gäbe es die ja wahrscheinlich gar nicht. Es gibt bestimmt auch Freier, die nicht so frauenverachtend reden. Doch viele dieser Männer glauben, sie könnten sich mit Geld Macht über die Frau erkaufen. Ich habe die Zitate aus Online-Foren, in denen Männer Prostituierte bewerten und ziemlich explizite Erfahrungsberichte schreiben. In diesen Freier-Foren waren tausende solcher Beiträge und ich fand es einfach wichtig, die mit einzubinden.

Verbinden Sie mit Ihrem Projekt eine politische Position?

Ich will darauf hinweisen, dass es noch immer Elends- und Zwangsprostitution in Berlin gibt. Es gibt viele Arbeiten zur Sexarbeit, die SexarbeiterInnen zeigen, die selbstbestimmt und selbstbewusst auftreten. Dadurch möchten sie Sexarbeit aus der "Schmuddel-Ecke" rausholen – was ja auch wichtig und gut ist. Am Anfang habe ich noch überlegt, ob ich das komplette Spektrum abbilde, also auch Sexarbeiterinnen einbeziehe. Doch ich habe mich dagegen entschieden. Es gibt kaum Arbeiten, die kritischer auf Elendsprostitution schauen. Deswegen wollte ich genau diese Frauen, ihren Alltag und ihre Lebensrealität zeigen. Frauen, die oftmals aus osteuropäischen Ländern kommen, keine Stimme haben und oft nicht wissen, welche Rechte sie als Sexarbeiterinnen in Deutschland eigentlich hätten oder haben sollten.