Buch und Ausstellung zu Hilma af Klint

Aus der geöffneten Zeitkapsel

Seit einigen Jahren versetzt das Werk der Malerin Hilma af Klint die Welt in Staunen. Einen Anteil an der Wiederentdeckung hat Julia Voss, die jetzt eine Biografie veröffentlicht und eine Ausstellung in Berlin mitkuratiert hat. Eine Begegnung

Von jetzt an scrollen wir uns also durch virtuelle Ausstellungen, pusten den Staub von Kunstkatalogen, um uns am Surrogat von Abbildungen schadlos zu halten. Wann die Galerien und Museen wieder offen sein werden, weiß niemand. Am 14. April sollte eine umfassende Schau der schwedischen Künstlerin Hilma af Klint (1862-1944) im Moderna Museet in Malmö eröffnen. Daraus wird nichts. Und die kleine Ausstellung "Hilma af Klint und das wilde Zeichnen" in der Berliner Villa Grisebach ist zwar gehängt, aber bis auf Weiteres nicht für den Publikumsverkehr offen. "Einzelne Besuche sind gerne nach Vereinbarung möglich", heißt es immerhin auf der Website des Auktionshauses.

Trotzdem war ein Treffen mit der Ko-Kuratorin Julia Voss am vergangenen Mittwoch möglich - sozusagen eine Zweipersonen-Pressekonferenz mit gebührendem Abstand. Die Grisebach-Präsentation mit Papierarbeiten ist nur ein Nebenprodukt ihrer intensiven Beschäftigung mit Hilma af Klint. Gerade ist die fesselnde Künstlerinnenbiografie der promovierten Kunsthistorikerin erschienen, mit dem Untertitel "Die Menschheit in Erstaunen versetzen". Das Zitat stammt aus einem Notizbuch von af Klint, eine von 26.000 handschriftlichen oder maschinengeschriebenen Seiten aus dem Nachlass der Künstlerin, die Voss für ihre Recherchen gelesen hat.

Durchs Übersinnliche zum Ungegenständlichen

Seit sieben Jahren rollt eine Af-Klint-Welle über den Globus, ist das Kunstpublikum erstaunt und entzückt über die abstrakten Bilder dieser Künstlerin, die Jahre vor Wassily Kandinsky ungegenständlich gemalt, mit entfesselten Formen jongliert hat. Julia Voss zählt zu den Wegbereiterinnen der Af-Klint-Entdeckung, die man nicht "Renaissance" nennen kann, weil der Schwedin zeitlebens der große Erfolg versagt blieb.

Auf 600 Seiten reißt Voss über ihre Hauptfigur hinaus ein Zeitpanorama auf: Einzelne Frauen dürfen Ende des 19. Jahrhunderts in Schweden erstmals ein Akademiestudium aufnehmen. Freilich machen am Ende nur die männlichen Kommilitonen Karriere. Für Frauen, selbst für eine Adelstochter wie af Klint, ist es eine Welt der begrenzten Möglichkeiten, aus der die Künstlerin mit einer Schar Gleichgesinnter einen Ausgang findet: Die Tür zum Übersinnlichen. Af Klint wird Anhängerin der Theosophie, die Frauen und Männer als gleichberechtigt ansieht. 1886 tut sie sich mit vier Freundinnen zu einem spirituellen Zirkel zusammen. Man nimmt Kontakt zu den Toten auf, im Sommer 1904 meldet sich ein geistiges Wesen namens Ananda: Hilma sei dazu auserkoren, "astrale Gemälde" zu schaffen. Im November 1906 vollzieht af Klint die Wende in ihrem Werk. Sie verabschiedet sich weitgehend vom akademischen Regelwerk, malt von nun an teilweise vollkommen ungegenständlich. Und bleibt bis zum Lebensende im Dialog mit den Toten.

Eingekapselt für die Zukunft

Die "höheren Wesen" behandelt Voss in ihrem Buch nicht anders als reale Zeitgenossinnen der Künstlerin. Zu oft wurde in der Vergangenheit versucht, die okkulte Praxis um die vorletzte Jahrhundertwende zu ironisieren. Im Fall af Klints wird damit eben auch das Werk einer vermeintlichen "Spinnerin" marginalisiert. Weil es in Familienbesitz verbleibt, unverkäuflich und damit keine Spielmasse für den Kunstmarkt?

Nun waren Wissenschaft und – wie man das heute nennt – Parawissenschaft noch keine getrennten Sphären. Af Klint befindet sich als Grenzgängerin eigentlich in guter Gesellschaft: Thomas Edison, der uns die Glühbirne brachte, plante zeitweilig, ein "Spirit Phone" zwecks Telefonaten mit den Toten zu bauen.

Vor allem aber: Ohne den Schutzraum aus Theosophie und Spiritismus, hätte af Klint ihre revolutionären Bilder nicht schaffen können.

Allein aufgrund der Fülle und Formenvielfalt ihrer Werke ist af Klint eine Ausnahmeerscheinung. Aber es gab in der Vergangenheit sicher noch andere Künstlerinnen und Künstler von Rang, die nicht so umsichtig waren, ihr Werk einzukapseln und für die Nachwelt zu konservieren. Wir können nicht wissen, welche Kunstschätze für immer verschwunden sind. In der Villa Grisebach wird zumindest das Bewusstsein dafür geschärft: Da war mehr. Neben einigen bislang nie gezeigten Werken af Klints sind bei Grisebach auch Bleistiftzeichnungen von Frauen ausgestellt, die um 1900 in spirituellen Zirkeln entstanden sind.

Spirituell, aber nicht weltfremd

Hier wie in Voss' großartiger Biografie wird an die okkulten Ursprünge der modernen Abstraktion erinnert. "Ich konnte einfach keinen Bogen um den Spiritismus machen", sagt Julia Voss. Af Klint sei spirituell, aber nicht weltfremd gewesen, "Sie ging ins Kino, interessierte sich für wissenschaftliche und philosophische Strömungen ihrer Zeit". Aufgeschlossen sei die Künstlerin gewesen, das habe der Autorin die Arbeit erleichtert. Und Voss schafft es, diese Frau, die auf Fotos lange Röcke und bis zum Hals zugeknöpfte Blusen trägt wie eine Figur aus einem Strindberg-Drama, auch uns näherzubringen.

Zu diesem Zweck verbindet Voss in ihrem Buch wissenschaftliche Akribie mit romanhaften Zügen. Mal ist die Autorin distanzierte Erklärerin, dann wieder leidenschaftliche Erzählerin. Fesselnd schildert sie die Vorgeschichte der Seefahrer-Familie Klint, die 1805 dank einer Heldentat von Hilmas Urgroßvater Erik geadelt wird. Ein anderer Erik, ihr Neffe, wird zur Schlüsselfigur für das Nachleben der Künstlerin. Die alternde Hilma af Klint entzieht ihr ohne Resonanz bleibendes Werk ihren Zeitgenossen, indem sie es einschließt. Als Vertrauter steht ihr Erik af Klint zur Seite, der sich an die Vereinbarung hält, die über 1000 Werke frühestens 20 Jahre nach ihrem Tod zu veröffentlichen und nicht zu veräußern. Die Künstlerin habe ihr Werk "wie eine Zeitkapsel in die Zukunft" geschossen, schreibt Voss. Die Zukunft ist jetzt. Hier und heute trifft af Klints Kunst mitten ins Herz.