Benjamin Heisenbergs "Americana"

Wahnsinn ohne Methode

In seiner Serie "Americana" manipuliert der Künstler Benjamin Heisenberg berühmte Szenen aus Hitchcock-Filmen. Wenn die sichtbare Quelle der Gefahr verschwindet, übernimmt die Paranoia - und die Dekonstruktion fördert Tieferes zutage 

"If you’re rollin’ through San Francisco…" Was macht die große schwarze Kugel in den Verfolgungsszenen von Alfred Hitchcocks "Vertigo" (1958)? Obwohl umfänglich wie ein Sportwagen, kullert sie durch enge Gassen und Museumstüren, sie mag Jasper Johns’ "Target"-Bilder und besonders Caspar David Friedrichs "Zwei Männer in Betrachtung des Mondes". Seltsamerweise ist das Bild nie in San Franciso gewesen, wie auch James Stewart, der die Riesenmurmel in dem Kurzfilm "Tracing O" verfolgt, ja sonst hinter Kim Novak her ist. Benjamin Heisenberg hat den Originalthriller gekürzt, neu montiert und die suizidale Heroine durch eine mondsüchtige Kugel ersetzt.

"Americana" lautet der Titel von Heisenbergs vierter Ausstellung im Krematorium Wedding, seit 2013 die Berliner Spielstätte der Galerie Ebensperger. Neben Bildwerken werden mehrere Found-Footage-Filme aus Material berühmter Hitchcockfilme gezeigt. Aber ob Novak, Grace Kelly oder Eva Marie Saint: Von Hitchcock-Blondinen keine Spur. Überhaupt radiert Heisenberg typische Motive des Suspense-Königs aus den Filmen, wie etwa den Doppeldecker, der Cary Grant im Maisfeld unkrautvernichten will. "Das unsichtbare Dritte", Heisenbergs Dreiminutenversion der legendären "Crop Duster"-Sequence minus Flugzeug war schon 2016 hier im Krematorium zu sehen. Jetzt noch einmal, weil sie ein Ausgangspunkt des "Americana"-Zyklus war.

Heisenberg erzählt vom Wahn. Wozu wirft sich Grant ohne Fliegerangriff in den Staub? Was bringt James Stewart dazu, in die Bucht von San Francisco zu springen und durchs Wasser zu kraulen, während die Kugel zur Sonne schwebt, um eine Mondfinsternis auszulösen? Wahnsinn ohne Methode muss man auch Ray Milland attestieren, der in "Dial M for Me" in seiner Wohnung zwanghaft Gegenstände und Kunstwerke umarrangiert, denn Heisenberg hat ihm seine Gattenmordlust und Grace Kelly weggenommen. "Bei Anruf Mord"? Kein Anschlag unter dieser Nummer.

Die Mördervögel aus dem Bild radiert

Heisenberg, der schon als 19-Jähriger ein Kunststudium an der Münchener Akademie aufnahm und neben seinen Spielfilm-Regiearbeiten "Schläfer", "Der Räuber" und "Über-Ich und Du" nie die bildende Kunst vernachlässigt hat, will die USA nicht als Irrsinns-Zentrale verunglimpfen. 1974 ist er in Tübingen geboren, zeitweilig lebte die Familie in Los Angeles, Heisenberg, der heute in Luzern wohnt und in Zürich an der Filmhochschule lehrt, kennt den Wahnsinn auf beiden Seiten des Teichs. Die USA sind natürlich nicht die Irrsinns-Kapitale. "Americana" (landläufig sind damit Blue Jeans, Bilder von Norman Rockwell, Coca-Cola oder andere US-Importe gemeint) gibt’s überall. Amerika ist der Referenzraumen. Hitchcock drehte ikonische US-Filme, er hat den Thriller praktisch erfunden. Dabei kam er aus England. Und brachte seine Weltkriegsparanoia mit – wie noch die Luftangriffe in "Die Vögel" zeigen.

Heisenbergs Monitor-Bodeninstallation "Birds Clone Stamp" beruht auf einer Attacke auf Bodega Bay – aus der Vogelperspektive gesehen. Die Mördervögel hat der Künstler aus den Filmbildern radiert, was zur Folge hatte, dass sein Tool nun auch die Originalbilder – mitsamt der Topografie des Küstenstädtchens Bodega Bay – zerfraß. Auf den Monitoren sind lauter Schlieren und Artefakte zu sehen, exponentielles Chaos.

Abgründiger Inhalt der Geschichten

Es gibt die Momente von Dekonstruktion und Dekomposition in Heisenbergs Werk. Trotzdem kommt er immer wieder zum Geschichtenerzählen zurück. Seine Text-Bild-Collagen an den Wänden erzählen von einer fiktiven Pandemie (die Tafeln "Wach I-III" entstanden 2018, vor Corona) oder von einem Trio mit Gesichtern aus Dürer-Bildern, das sich über verpasste Wohlstands-Chancen unterhält, wie aus den Sprechblasen zu entnehmen ist ("Danger Hot Coal", 2018). Ähnlich Jasper Johns arbeitet Heisenberg mit (zusätzlicher) Enkaustik-Technik, womit er die mit Grafik-Programm erstellten Schwarzweiß-Collagen einfärbt, mit farbigem, erhitztem Wachs, das bunte Tropfen und Laufstreifen auf dem Papiergrund hinterlässt. Das farbige Licht, das Heisenberg so erzeugt, und die Comic-Anmutung täuschen kaum über den abgründigen Inhalt der Geschichten hinweg.

Bei dem Hochformat "Sitting Duck" (2020) verknüpft Heisenberg die legendäre Fernsehdebatte zwischen Richard Nixon und John F. Kennedy 1960 mit einer TV-Konfrontation der Kandidaten der Bundespräsidentenwahl 2016 in Österreich. Das Motiv der sich gegenübersitzenden Politiker wurde vom Künstler so geteilt und vertikal angeordnet, dass die Bildmitte von "Fernsehrauschen" dominiert wird, eine körnige Struktur, die Heisenberg "demokratisch" blau und "republikanisch" rot eingefärbt hat. Allerdings falsch herum, nach heutiger politischer Farbenlehre. Aber der US-Farbcode ist ohnehin verworren. Im Kalten Krieg wollte keine Partei "rot" sein. Noch 1980 kommentierte ein NBC-Sprecher den Erfolg Reagans in 44 Staaten als "suburban swimming pool". Was für ein Durcheinander! Wahnsinn!