Fotoausstellung in den Reinbeckhallen

Berlin im Zeitraffer

Berlin zwischen den unmittelbaren Nachkriegsjahren und dem Beginn des 21. Jahrhunderts: Die Reinbeckhallen zeigen eine fotografische Rundumschau, die zum Nachdenken über die Gegenwart anregt

Berlin – eine Stadt, die nie stillsteht. So vielfältig wie die Viertel, Bewohner und Architekturen, so vielfältig sind die Sichtweisen auf die Metropole an der Spree. Als fotografisches Sujet ist Berlin unverwunderlich ein beliebtes Motiv für private oder "professionelle" Kameras, denn zwischen den Jahren 1945 und 2000 ist hier einiges passiert. Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg, die Trennung in vier Sektoren und dann durch die Mauer, aufgeteilt in Ost und West, Wiedervereinigung, Hausbesetzungen, Kunst und Subkultur. Es wird schnell klar: Unter einer Masse an Fotografien diejenigen auszusuchen, die für die jeweiligen Jahrzehnte stellvertretend stehen können, ist keine leichte Aufgabe.

Unter dem Titel "Berlin, 1945–2000: A Photographic Subject" wagen sich die Reinbeckhallen an eine Auswahl in drei Kapiteln. Die heikle Gratwanderung zwischen Klischee-Reproduktion und Reduktion auf das "Wesentliche" besteht die Kuratorin Candice M. Hamelin mit einfühlsamen Auge und geschulter Präzision. Gefiltert zwar durch eine subjektive Linse – Hamelin promovierte über ostdeutsche Kunstfotografie – gelingt ihr eine fotografische Rundumschau Berlins im Zeitraffer. Wie schon weitere Berlin-Ausstellungen gezeigt haben oder aktuell zeigen, handelt es sich auch bei dieser Perspektive nur um eine mögliche Vermittlung der Zeitgeschichte.

Industriecharme für die Kunst

Im Bezirk Oberschöneweide, direkt an der Spree gelegen, schreiben sich die Ausstellungsräume der Stiftung Reinbeckhallen ein in bestehende Industriearchitektur. In den riesigen Hallen selbst hängen technische Überbleibsel aus vergangenen Tagen vor weißgestrichenen Mauern, Stahlbalken und Zwischenwände strukturieren die Weite. Die ehemalige Fabrik bietet viel Platz für kreative Geister.

In den umliegenden Gebäuden sind Künstlerstudios beheimatet, darunter das von Alicja Kwade. Auf Wiesen liegen Menschen in der Sonne, in den Cafés ringsum herrscht reger Betrieb. Der Bezirk befindet sich, wie viele ehemalige Industriegebiete, in einem Wandel aus Umnutzung von industriellem Leerstand und Gentrifizierung durch die Kreativ- und Kulturwirtschaft. Das stadtplanerische Konzept der Kreativen Stadt wird hier sicht- und erfahrbar. Umso spannender ist es, dass hier, fernab von den Zentren Berlins, eine fotografische Retrospektive der Geschichte Berlins zwischen 1945 und 2000 stattfindet.

Berlin ist seit jeher ein Magnet für Kreative. Unter den fünf Fotografinnen und 18 Fotografen der Ausstellung sind daher viele Zugezogene – so wie die Kuratorin selbst. Mit einem beobachtenden, aufmerksamen Blick untersuchen sie die Essenz der Stadt, decken auf, vermitteln ihre Sicht.

Ähnlich wie Roland Barthes in "Die helle Kammer" postuliert, dass Fotografie ein "Es ist so gewesen" zeige, so beschreibt auch der Theoretiker Philippe Dubois Fotografie als "Spur des Wirklichen". Wir können Fotografien studieren, Spuren lesen, Referenzen finden, sie in einen historischen Kontext verorten. Doch was ergreift die Betrachtenden, regt sie zum Nachdenken an? Roland Barthes beschreibt dieses Phänomen als "Punctum". Etwas im fotografischen Bild sticht uns, weckt unsere Aufmerksamkeit. Dieses Empfinden ist hochgradig subjektiv, eigene Erfahrungen und Erlebnisse schreiben sich dabei in die Wahrnehmung ein und leiten sie. Von den Fotografien in den Reinbeckhallen punktieren mich einige.

Von Trümmerbergen zum Bauboom

Meine Großmutter, die im Jahr 1947 als junges Mädchen aus Schlesien nach Berlin geflüchtet ist, berichtete mir schon früh von der Zeit nach dem Krieg, die einmal mehr von Knappheit und Hunger geprägt war. Nun steht da dieser Knabe, kaum jünger als meine Großmutter damals, in viel zu großen Schuhen und einem Mantel, der ihn zu verschlucken scheint. Die Fotografie von Herbert Hensky ist bereits im Jahr 1946 entstanden und trägt den Namen "Berliner Kriegskind". Der junge Mensch blickt aufmerksam in das Objektiv, seine Lippen sind leicht zusammengepresst. Um ihn herum sind Schuttberge zu sehen. Neben ihm räumen die "Trümmerfrauen" die Überreste zerbombter Gebäude auf. Mit Spaten und Schaufeln hieven sie die staubigen Massen in Trümmerbahnen.

Fotografien von Studierenden oder romantisch anmutenden Spree-Anglern lassen Hoffnung auf Veränderung aufglimmen. Der Wiederaufbau setzt ein. Arno Fischer und Will McBride zeigen Menschen, die in die Ferne schauen, sie blicken aus dem fotografischen Rahmen hinaus, beobachten, bewegen sich. Die Personen sind unterwegs, auf dem Fahrrad, in Kutschen und auf Booten. Oder sie sitzen in Strandkörben am Wannsee. Die Fotografien entstanden in den späten 1950er-Jahren als das "Wirtschaftswunder" die BRD ergreift.

Anno Wilms dokumentiert die neuen Architekturen, die während des "Baubooms" in den 1960er-Jahren in West-Berlin entstanden sind – darunter Bauten von Le Corbusier und Mies van der Rohe – und DDR-Fotograf Roger Melis porträtiert zur gleichen Zeit den mit Efeu überwucherten jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee. Daneben zeigt eine Fotografie von Werner Zellien die Ruinen des Anhalter-Bahnhof im Jahr 1984. Über den Fernbahnhof wurden während des NS-Regimes jüdische Bewohner Berlins nach Theresienstadt deportiert. Heute erinnert an diesem Ort eine Gedenktafel an die Deportierten.

Berliner Straßenszenen

Zellien verweist mit einer weiteren Fotografie auch auf Obdachlosigkeit und Nachtkultur. "Liebende" entsteht 1986 und observiert ein schlafendes Paar, das umschlungen unter einer Decke liegt. Wir als Betrachtende der Fotografie stehen drinnen vor einer mit Holzklötzen verriegelten Glastür. Die zwei Menschen liegen draußen davor, auf den Treppen eines historischen Gebäudes, steinerne Säulen und Terrazzo-Boden umgeben sie. Um sie herum stehen zwei Bierflaschen, Stiefel und Zigaretten. Es ist Sommer, die Bäume auf der Wiese sind voll Blätter, der Himmel wirkt nebelig, wie am frühen Morgen. Vielleicht kommen die "Liebenden" von einer wilden Clubnacht und ließen sich vor dem schützenden Portal nieder. Zwei Perspektiven auf die gleiche Situation überlagern sich, sie sind mit Klebestreifen aneinander geheftet.

Nach den Schlafenden sind wieder Bilder von Menschen in Bewegung zu sehen. Max Jacoby flaniert im Jahr 1967 durch West-Berlin und zeigt Passierende, Zeichen- und Leitsysteme in der Stadt. Auch Karl-Ludwig Lange kehrt immer wieder zurück an ein und denselben Ort. 1977 entsteht seine Serie "Oranienstraße", die er entlangwandert und deren Ladenzeilen er dokumentiert. Heute prägen internationale Speisekulturen und Geschäfte die Kreuzberger Oranienstraße und die Atmosphäre im Kiez. Die Kuratorin Candice M. Hamelin habe diese Fotografien gewählt, um auf Gastarbeitende hinzuweisen, die maßgeblich zu dem Wiederaufbau nach dem Krieg beigetragen haben.

Weitere Straßenszenen der 1970er- und 1980er-Jahre von Wilfried Bauer, Evelyn Richter und Rudi Meisel folgen. Gundula Schulze-Eldowy untersucht mit "Berlin in einer Hundenacht" schattige Hinterhöfe, pausierende Arbeiter, ältere Menschen, Maskierte und Nackte in ihrer Nachbarschaft. Auch Miron Zownir wagt in der noch bis 2016 fortwährenden Serie "Berlin Noir" einen Blick in die Subkulturen Berlins, besucht Teilnehmende des Nachtlebens, zu Boden Fallende, Auf- und Abgehängte.

Mitte der 1980er-Jahre fängt Maria Sewcz, Lehrbeauftragte an der Ostkreuzschule für Fotografie, fragmentarische Perspektiven auf Ost-Berlin ein. Der Fernsehturm legt sich als Schatten über die Menschen auf dem Alexanderplatz, ein Mann mit blankem Schädel wartet an einer Ampel vor dem Roten Rathaus, obwohl keine Autos anstehen. Kurt Buchwald bewegt sich mit seiner Kamera und lässt eine längere Belichtung zu. Verschwommene Bilder erzeugen eine Dynamik zwischen wilder Fahrt und Rauschzustand. Auch Michael Schmidt blickt durch ein Loch in der immer fragiler werdenden Mauer in eine unklare Stadtkulisse hinter dem Todesstreifen. "Waffenruhe" scheint hier nicht nur Titel der Arbeit sondern auch Wunsch nach ebendieser zu sein.

Karl-Ludwig Lange dokumentiert am Abend des 10. November 1989 den Mauerfall. Zwei Bilder eines Momentes, den die meisten Berliner nie vergessen werden. Sibylle Bergemann läuft mit ihrer Kamera die gefallene Berliner Mauer entlang und fängt Alltagsszenen ein. Zwar ist die Mauer als Symbol eines geteilten Berlins Geschichte, doch als Relikt bleibt sie im Stadtraum erhalten. Oft ist sie nur mehr (Foto-)Kulisse, Menschen gehen an ihr vorbei oder kaufen Teile von ihr als Souvenir. Dass nach dem Mauerfall nicht alles rosig ist, dringt durch die Graffitis hervor: "Weg sind ein paar Stücke Beton, es bleibt die Mauer zwischen Hautfarben und Kulturen".

Noch aber rebellieren die jungen Menschen gegen bestehende Systeme, feiern das Leben und die Liebe, die vor heteronormativen Beziehungsvorgaben der in vielerlei Hinsicht konservativen Bundesrepublik nicht klein beigibt. Berlin ist divers, Berlin ist queer. Sie rebellieren friedlich. Die Loveparade feiert die Techno-Kultur, für die Berlin weltbekannt und berühmt-berüchtigt ist. Fotografien erhaschen Menschen in Ekstase. Überraschung in den Gesichtsausdrücken: In den meisten Berliner Clubs herrscht Foto-Verbot für ein ungestörtes Feiervergnügen. Auf der Straße haben Fotografierende hingegen leichtes Spiel. Im Gegensatz zu der radikalen Suche nach Öffentlichkeit zieht sich Nan Goldin in ihrer Serie "Piotr" zurück ins Private und fotografiert ihren Freund, den Kieler Kunstprofessor Piotr Nathan, bei verschiedenen Alltagshandlungen.

Zeitliche Überlagerungen

"Zwischenland/Zwischenzeit" zeigt den ehemaligen Ost-Berliner Bezirk Prenzlauer Berg kurz nach der Wiedervereinigung. Die Fotografie-Serie von Ulrich Wüst wird in einem Leporello präsentiert und verlangt bei der Betrachtung Körpereinsatz. Das Hin- und Her-Nicken zwischen den Seiten gleicht einem Kopfschütteln. Leere Obstkisten und Ladenzeilen. Die Doktrin der Stunde steht auf einer Fensterscheibe: "Kost the Ost".

In den 1990er-Jahren wurden im ehemaligen Ost-Berlin vermehrt leerstehende Gebäude besetzt. Eins der bekanntesten Projekte war das Tacheles an der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. Nachdem eine Künstlergruppe das bereits zur Sprengung freigegebene ehemalige Kaufhaus besetzte, zu einem Kunst- und Kulturhaus umfunktionierte und nach sich benannte, wurde es zu einem wichtigen Ort für die junge kreative Szene. Schließlich wurde es unter Denkmalschutz gestellt. Andreas Rost war dort unterwegs, hat das Gebäude und die Akteure porträtiert. Begleitetet werden die Fotografien von Textauszügen.

2012 wurde eine Zwangsräumung des Tacheles angeordnet und die Besetzer verdrängt. Bis zum Jahr 2022 soll dort ein neues Stadtquartier entstehen – ein Paradebeispiel für die Zerstörungskraft der aktuellen Stadtplanungspolitik: Künstlerinnen und Künstler werten aus eigener Initiative und oftmals gegen den Willen der städtischen Obrigkeit ein Viertel auf, machen es spannend für ihre Mitmenschen und letztendlich "attraktiv" für Investoren. Sobald ausreichend kreatives Potential da und ein Bezirk aufgewertet ist, werden Gentrifizierungsprozesse in Gang und die Ausgangs-Projekte vor die Tür gesetzt. Es folgt eine Stadtplanung "von oben".

In den 1990ern und frühen 2000ern galt Berlin als "arm aber sexy", wie es der damals amtierende Bürgermeister Klaus Wowereit 2003 ausdrückte. Die preiswerten Mieten lockten aber nicht nur Kreative aus aller Welt an, sondern auch zahlungskräftige Investoren, die das kreative Potential der Stadt erkannten und unzählige Häuser und Grundstücke kauften. Heute muss man in manchen beliebten Viertel bis zu 700 Euro für ein WG-Zimmer zahlen. An eine eigene Wohnung ist für viele gar nicht zu denken. Der Mietendeckel soll Abhilfe schaffen – ob er doch noch gekippt wird, ist ungewiss.

Harf Zimmermann und Michael Wesely untersuchen in ihren Fotografien den zweiten Bauboom durch Großinvestoren in den 1990er-Jahren. Wesely dokumentierte mittels Langzeitbelichtung über mehrere Jahre hinweg Baustellen am Leipziger Platz und am Potsdamer Platz. Dazu ließ er seine Kamera an ein und demselben Ort stehen, sie fotografierte unentwegt und lässt durch die zeitliche Überlagerung den Eindruck eines Bewegtbildes entstehen.

Die Investitionswelle wirkt sich unausweichlich auf Berlin und das urbane Leben in der Metropole aus. Das, was Berlin gemeinhin aus- und berühmt gemacht hat, die Kunst-, Kultur- und Clubszenen, bangen nicht zuletzt durch die Corona-Pandemie um ihre Existenz. Wenige Kunstschaffende können sich ein eigenes Atelier leisten und geförderte Studioplätze sind rar. Nur einige namenhafte Künstler-Unternehmer können sie die hohen Mieten oder Kaufpreise für die Lager- und Werkstätten, wie die neben den Reinbeckhallen, noch leisten.

Es ist treffend, dass die Ausstellung "Berlin, 1945–2000: A Photographic Subject" in dem zur Kunst- und Kulturzone umgewandelten ehemaligen Industriegebiet Oberschöneweide stattfindet. In den Reinbeckhallen, außerhalb des Stadtzentrums, wo die Gentrifizierungsmechanismen bereits um sich greifen, erregt der Rückblick auf die Geschichte Berlins Melancholie und Kontemplation. Ein Gedankenspiel lässt mich nicht los: Wenn der Zeitraum 2001-2020 ein eigenes, repräsentatives Kapitel in der Fotografie-Ausstellung erhalten hätte, welche Bilder würden dann gezeigt?