13. Berlin Biennale

Wohin führt uns dieser Fuchs?

Die aktuelle Berlin Biennale widmet sich Künstlerinnen und Kollektiven, die unter den widrigsten Umständen arbeiten. Wie sich diese Kunst den Machtverhältnissen widersetzt, gefällt offenbar allen. Doch ist das wirklich gut?  

Der Fuchs, dieser Überlebenskünstler, dieser mystische Trickster, ist das Wappentier der 13. Berlin Biennale. Überall, im Logo, im Katalog, in Gesprächen, stößt man auf ihn, genauso wie auf das Wort foxing

Einige Tage vor der Eröffnung las ich im britischen "Guardian" einen Artikel, der diese Praxis ganz gut beschreibt: Mitten in London, im Stadtteil King's Cross, baute Google für 1,2 Milliarden Euro ein Hochhaus, einen sogenannten "Landscraper", in dem 7000 Mitarbeiter untergebracht werden. Auf dessen 300 Meter langer Dachterrasse wurden 45.000 Tonnen Erde angehäuft, Rasen verlegt und ein "Wald" aus 250 Bäumen angepflanzt.  

Doch nun das: In der noch nicht eröffneten Unternehmenszentrale graben Füchse, die sich von Ratten und den Essensresten der Bauarbeiter ernähren, Tunnel in die Erde. Sie vermehren sich, laufen in Büros herum, kacken ins Erdgeschoss. Niemand kann sie fangen. Das ist foxing: Das Wenige nutzen, was da ist, Autorität unterminieren, eigene Regeln machen, auftauchen, verschwinden, aus dem Gebüsch gucken. Und so Monopolisten in den Wahnsinn treiben.

Was hat die Kunst beizutragen?

Die in Mumbai geborene Kuratorin Zasha Colah und ihre aus Argentinien stammende Co-Kuratorin Valentina Viviani leben in Italien. Die beiden haben die diesjährige Biennale unter dem Motto "Das Flüchtige weitergeben" Künstlern, Künstlerinnen und Kollektiven gewidmet, die unter den widrigsten Umständen arbeiten: in Diktaturen, bedroht von Haft, Zensur, Folter, ohne Institutionen und Infrastruktur. Ein aktuelleres Thema hätte man angesichts des Vormarsches von Tech-Aristokratien, US-amerikanischen Königen und totalitären Systemen nicht wählen können. Die Biennale fällt in eine brisante Zeit. 

Die USA verfallen in den Faschismus, Leute werden auf offener Straße verschleppt und verschwinden. Die katastrophale humanitäre Lage, das Morden an der Zivilbevölkerung von Gaza, wird inzwischen von einem drohenden größeren Krieg, möglicherweise mit Atomwaffen, in Nahost überlagert. Überall toben die sogenannten culture wars. Die Avantgarden sind heute rechts, tragen meterlange Schlipse, arische Tattoos, blonde Haarteile und Schluppenblusen.  

Dabei ist "woke" voll abgemeldet, während man auch "links" oder "feministisch" altbacken findet. Kolonialismus, Faschismus und Kapitalismus zusammen denken? Nein, danke! Das soll mal die narzisstische Greta auf ihrem Selfie-Schiff machen! Natürlich waren wir nie woke, aber wen kümmerts? Es soll in der Not irgendwas anderes kommen, nur was? Und was hat die Kunst dazu beizutragen? Wie stellt sie sich autoritärer, totalitärer Macht, Militarisierung, Ökozid entgegen?   

"Kunst per se" heißt Widerstand

Colah und Viviani nehmen bei dem Versuch, auf diese Frage einzugehen (nicht unbedingt, um sie zu beantworten) vor allem Kunst-Communities in Südost-Asien (mit Schwerpunkt Myanmar) oder Argentinien in den Fokus, mit denen sie seit Jahren verbunden sind. Und knüpfen damit an die Diskurse an, die die umstrittene Documenta Fifteen 2022 losgetreten hat, nicht nur wegen der Debatten um Antisemitismus. Angefeindet wurde sie auch, weil sie den westlichen Betrieb mit einem völlig anderen, aktivistischen, oft lokalen, anti-kapitalistischen Kunstbegriff aus dem "Globalen Süden" konfrontierte. 

Nun also der nächste Schritt. Auch in Berlin, in den KW, den Sophiensälen, im Hamburger Bahnhof und in einem ehemaligen Gerichtsgebäude an der Lehrter Straße, setzen die Kuratorinnen auf direkte Begegnung, Improvisation, Humor, Agitation, Aktivismus. Aber sie versuchen, sich ideologischen Kategorisierungen zu entziehen, der Kunst eine eigene subversive Wirkungsmacht zuzuschreiben. "Kunst per se" bildet sowohl lokal als auch global eine Form von politischem Widerstand gegen autoritäre Systeme, kämpft für Redefreiheit und den Schutz von Menschenrechten. Und das, so dokumentiert es diese Biennale, wird auch unter Lebensgefahr und in absoluten, existenziellen Notlagen durchgezogen. 

Deutlich wird das schon im Mutterhaus der Biennale, den KW, wo viele Positionen aus Myanmar vertreten sind: einem Land, das, was Menschenrechte angeht, weltweit auf dem vorletzten Platz liegt; hinter Nordkorea, vor Afghanistan. Das Erste, was man im Hof sieht, ist der Banner "Good Teeth Bite Strong", das für den "Big Mouth Comedy Club" der bosnischen Künstlerin Mila Panić wirbt. Diese gastiert für die Dauer der gesamten Biennale mit anderen Stand-up-Comedians im Keller der Institution.

Schrecklicher Slapstick

Auch das ist ein Thema der Biennale: Witz und Ironie als Mittel der Subversion und Gegenrede. Was das für ein fremder Humor sein kann, sieht man gleich zu Beginn der Ausstellung bei "Die Fliege" (2008), einer auf Video festgehaltenen Performance des berühmten burmesischen Künstlers und Oppositionellen Htein Lin. Dieser floh 1988 nach dem Scheitern des demokratischen Volksaufstandes, bei dem Zigtausende Demonstranten getötet wurden, in den Regenwald und schloss sich der bewaffneten All Burma Students‘ Democratic Front an. 

Doch innerhalb der Gruppe, die sich von Agenten und Verrätern durchsetzt glaubte, kam es zu internen "Säuberungsaktionen". Htein Lin wurde von der eigenen Gruppe monatelang gefoltert. Er entkam, während 20 seiner Mitstreiter hingerichtet wurden. Doch dann wurde er vom Militär wegen der Anzettelung zum Aufstand zu sechs Jahren Haft ins Gefängnis geworfen, wo er seine Gewalterfahrung als Performance für Mithäftlinge aufführte. 

Das Video auf der Biennale wurde 2008 in Paris aufgenommen. Man sieht den nackten, gefesselten Künstler unter einem Scheinwerfer, der sich fast obsessiv auf eine Fliege konzentriert, die er schließlich verschluckt. Seine Fesseln fallen, doch sein Körper windet sich, zuckt, er beginnt über den Boden zu kriechen und das Publikum zu belästigen. Er ist in "Freiheit", doch auch Fänger und Fliege, Gefangener und Gefängnis zugleich. Das ist tatsächlich schrecklicher Slapstick. 

Diesen Humor entwickelst du, wenn eine Knarre auf dich gerichtet wird

Der "Humor", der auf der Biennale oftmals aufblitzt, kann karnevalistisch aussehen, etwa bei der queeren burmesischen Performancegruppe Major Nom, die bei der Pressekonferenz mit Hexenbesen, Regenbogenperücke und Clownsnase auftrat. Nett, dass die Leute in Myanmar ihre Diversität so schön bunt feiern, oder? 

Doch diesen Humor entwickelst du, wenn eine Knarre auf dich gerichtet wird, du zu jahrelanger Haft verknackt wirst, Bomben auf dein Zeltlager fallen, oder du bei der Folter nicht verrückt werden willst.  Er hat immer etwas mit Angst, physischen Qualen und unbändiger Hoffnung zu tun. Privilegierte Leute wie ich entdecken diese Art von Humor vielleicht am Sterbebett eines Freundes, der Krebs im Endstadium hat. 

Gleich gegenüber auf der anderen Seite gibt es ein zweites Video von Htein Lins ehemaliger Partnerin, der burmesischen Künstlerin Chaw Ei Thein. Es entstand 2022, als er wieder für ein Jahr im Knast saß. Es heißt "Versengte Fliege", und es meint vielleicht auch "gefolterte Fliege", zeigt das schwarz verkokelte, grimassierende Gesicht der Künstlerin: funny games  

Der Garten als Fuchsbau

Gleich daneben eine Galerie mit anrührenden, zarten Blumenstudien. Darunter sind etwa ein Druck von Steve McQueen und Seiten aus dem Gartenbuch der Dadaistin Hannah Höch, die sich in ihrem Berliner Schrebergarten vor den Nazis versteckte und vom Regime verbotene Pflanzenarten anbaute, quasi eine "Garten-Collage" schuf. Immer wieder taucht der Garten als Versteck, Fuchsbau, Ort des Traumas und der Heilung auf. 

So auch in der Haupthalle, die man über eine der wichtigsten Installationen der Biennale erreicht: die begehbare Treppe der italienischen Künstlerin Margherita Moscardini. 561 mit Nummern gravierte Sandsteine, die etwas wackelig zusammenhalten, formen etwas zu kurze Stufen, über die man sehr vorsichtig gehen muss, um nicht zu stolpern.  

Inspiriert ist diese Arbeit von dem sogenannten Status quo, der regelt, wer wann die heiligen Stätten in Jerusalem nutzen darf, besonders in Bezug auf den Tempelberg. Dieser Status beruht auf dem sogenannten Berliner Vertrag von 1878, in dem die damaligen Großmächte, darunter auch das Deutsche Reich, die territoriale Neuordnung in der Stadt etablierten.

Das Prekäre der Konstruktion

Heute ist diese Reglung eng mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt verbunden, wobei verschiedene religiöse Gruppen unterschiedliche Ansprüche und Vorstellungen über die Nutzung der Stätten haben. Moscardini konterkariert dieses territoriale Denken. Sie hat jeden der Steine staatenlosen, staatenübergreifenden Organisationen geschenkt; darunter Universitäten, indigene Gruppen, autonome Regionen, die in diesem Konstrukt notdürftig zusammenhalten müssen. Wer drüberstöckelt, spürt das Prekäre der Konstruktion körperlich. 

Unten in der Halle dann die Installation "Garden of Hope" der indischen Künstlerin Iris Yingzen, die zur indigenen, vom Militär verfolgten Bevölkerung des Nagalandes gehört. In den frühen 2000er-Jahren erlebte sie Folter direkt vor ihrem Haus. Dort stand ein Mast, an den die Opfer nachts gefesselt und zu Tode gequält wurden. 

Aus Protest, auch wegen ihrer Kinder, begann sie genau dort mit "Guerilla-Gardening", gründete einen Nachbarschaftsgarten, bei dem immer mehr Leute mitmachten. Eigentlich wollte sie auch in der Ausstellungshalle richtige Pflanzen ziehen. Nun hat sie stattdessen riesige Jutepaneele mit reduzierten, zeichenhaften Figuren bemalt. Die berühren nur wirklich, wenn man die Geschichte dahinter kennt. 

Das sitzt wie ein Faustschlag

Ganz anders ist das bei dem schlichten Erdgraben, den die burmesische Künstlerin Nge Nom in ein Beet im Garten hinter dem Haus hat buddeln lassen  – ähnlich dem, in dem sie sich 2021 nach einer Protestaktion versteckte, während viele ihrer Freunde vom Militär getötet wurden. 

Das Loch erinnert auch an eine Grube, in der etwas verscharrt oder begraben wird, hat die Proportionen von menschlichen Körpern. Es könnten auch die Opfer von Exekutionen hineingeworfen werden. Diese Arbeit spielt mit dem Verhältnis von Betrachter, Raum, Institution und Kunstwerk, verkörpert eine neue Form von Minimalismus, fern der Theorien westlicher Konzeptkunst, sehr direkt und pragmatisch. Das sitzt wie ein Faustschlag. 

Diese Einfachheit der Mittel, die Folter, Unterdrückung, Widerstand für ein Berliner Publikum "spürbar" machen will, kann je nach Kontext absolut überraschend sein. Aber sie kann auch eindimensional wirken, in Gefahr geraten, exotisiert oder verharmlost zu werden. Das gilt besonders für die Sektion "Artists‘ Street" im ersten Stock, die sich Protest und Performance außerhalb der Institutionen widmet.

Ein softes, sehr persönliches Archiv

Hier hat Chaw Ei Thein, die Fliegen-Performerin von unten, Straßen-Aktionen und Kunst-Demonstrationen in Myanmar zwischen 1996 und 2021 mit selbstgenähten Puppen nachgebaut. Die liebevoll ausgestatteten Figuren auf den Tischen erinnern erstmal an Handarbeit und Folklore – bis man mit der Künstlerin selbst spricht. Chaw Ei Thein hat sogar den Yangon High Court nachgebildet, an dem Dissidenten verurteilt wurden. Daneben ein Protest-Hochzeitszug, mit Gaffer-Tape eingeschnürte Bondage-Performer, Köpfe mit Gittergefängnissen aus Draht. 

Chaw Ei Thein, eine Endfünfzigerin, die inzwischen in New York lebt, zeigt auf die Puppen und sagt: "Die ist im Exil, der im Gefängnis". Sie selbst emigrierte, weil ihr Leben bedroht war. Mir wird klar, dass ich auf ein softes, sehr persönliches Archiv von Biografien und gar nicht kuscheligen Performances blicke. Erst wollte sie Keramiken machen, sagt die Künstlerin, aber die seien so zerbrechlich. Die Puppen, erklärt sie, hätten alle in drei Koffer gepasst. Das sei auch einfacher, gerade jetzt. 

Sie hat die US-Staatsbürgerschaft, aber viele Bekannte hätten ihr von der Reise abgeraten. Hier steht unausgesprochen die Frage im Raum, was passiert, wenn sie dort nicht mehr bleiben kann und nach Schengen-Europa will. Raus aus der nächsten Diktatur, raus aus dem Land, in dem sie Schutz gefunden hatte. 

Die Unlesbarkeit des Werkes

Dann sieht sie sich um, strahlt und sagt: "Alle meine Freunde sind hier mit mir". Sie erzählt, dass sie mit Absicht diese softe Form für das Publikum in Berlin gewählt hat. Sie findet es (im Gegensatz zur Versicherung) auch ok, wenn die Puppen angefasst werden. 

Ich frage, ob sie denn von westlicher Performancekunst beeinflusst ist. Sie nickt freundlich. Ich bin nicht sicher, ob sie mich verstanden hat: "Yoko Ono? Marina Abramović?" Ich könnte auch fragen: "Pepsi? Coca-Cola?" Sie lacht. "Ja, ja, Yoko Ono". Doch dann sieht sie mich an und erklärt, dass die Szene in Myanmar diese Aktionen nicht als Performances im westlichen Sinne versteht, dass soviel davon auch in traditionellen theatralischen oder rituellen Formen verankert ist, dass sie sich viel mehr an der burmesischen Kultur orientiert. Wir müssen weiter. Ich hätte gerne mehr über diese Einflüsse gewusst, im Ausstellungsbegleiter steht nichts darüber. 

In Interviews hat die Kuratorin Zasha Colah gesagt, das Publikum solle sich jeglichen vorgefassten Vorstellungen davon widersetzen, "was ein Kunstwerk ist, wo es stattfinden kann und unter welchen Bedingungen". Stattdessen solle man sich auf die Unlesbarkeit des Werkes verlassen und die eigene Unkenntnis als Ausgangspunkt nehmen. Natürlich geht es hier um eine Gratwanderung. Die Kunst soll nicht durch westliche Sichtweisen vereinnahmt und aus der privilegierten Perspektive kategorisiert und rationalisiert werden. Vielmehr geht es um eine ungewisse, schwierige Erfahrung. Man will das Denken nicht einengen, schreibt auch die Co-Kuratorin Viviani. 

Keine deutliche ideologische Festlegung

In jedem zweiten Ausstellungskatalog ist heute zu lesen, man wolle die Dinge "verkomplizieren". Wenn du was wissen willst, google später. Dieser nicht festgelegte, "anti-aufklärerische" Ansatz wird interessanterweise von derselben elaborierten Szene verfolgt, die sich vor einer Weile noch mit ganz spezifischen Hintergrundinformationen, Sprachreglungen, lokalen Kulturen oder ökologischen Bedingungen beschäftigt hat. 

Und während du dich durchfuchst, gibt diese Biennale dir ständig das Gefühl, dass ihre Macher genauer Bescheid wissen. Dass sie durchaus gelesen, gelernt, gegoogelt haben, aber was die Fakten angeht, Sparsamkeit herrschen lassen.      

Auch politisch wird eher Zurückhaltung geübt. Zwar tauchen in der Ausstellung und im Katalog marxistische Motive oder Zitate auf. Etwa in der hervorragenden Sektion im ehemaligen Gerichtsgebäude an der Lehrter Straße, die, auch in Bezug auf den neo-marxistischen Denker Georg Lukács, die Begriffe von Legalität und Illegalität untersucht. Doch es gibt eben auch keine deutliche ideologische Festlegung, kein klares Bekenntnis zu linker, marxistischer, antikolonialer Politik wie auf der letzten Documenta. 

Der politischste BH der Welt

Das freut sogar die Boulevardzeitung "BZ", die unter der Überschrift: "Berlin Biennale zeigt den politischsten BH der Welt" überraschend freundlich vermerkt: "Mit ihrem politischen Profil steht die von der Kulturstiftung des Bundes geförderte Berlin Biennale für eine engagierte Kunst, die sich den drängenden Fragen der Gegenwart stellt." Ok. 

Der besagte Riesen-BH der argentinischen Feministin Kiki Roca, der 1995 von einem Frauenkollektiv als Protest gegen korrupte Macho-Politik gebaut wurde, hängt in einer Ecke neben der Puppen-Installation von Chaw Ei Thein wie ein Dinosaurierskelett. Was auf der Straße in Córdoba ein Knaller war, wirkt 30 Jahre später im Museum wie ein ausgelaugter one-liner, das nostalgische Relikt eines Karnevalsumzugs. 

An der Decke dann riesige Masken, die der linke italienische Künstler Piero Gilardi (1942-2023) bei seinen Straßenprozessionen und Öko-Protestaktionen einsetzte. Auch das im Zeitalter von Meloni nicht so richtig schlagkräftig. Gleich anbei die Kostüme und Objekte der Erfurter Künstlerinnengruppe Exterra XX – die in der DDR in den 1980ern dissidente Kunst und Mode machte. 

Verquickung von New Wave, Mittelalter, Bondage und Schamanismus

Die Gruppe um die Künstlerin Gabriele Stötzer erlebt schon länger eine Renaissance, in deutschen Museen hat die Aufarbeitung des widerständigen DDR-Undergrounds Hochkonjunktur. Trotzdem ist das selbst für mich als alte 80s-West-Berlin-Person sehr spezielle Kost: diese ostdeutsche Verquickung von New Wave, Mittelalter, Bondage und Schamanismus.

Und genau angesichts dieser völlig unterschiedlichen Relikte, die da herumbaumeln, kommt mir ein Gedanke. Eigentlich müsste diese DDR-Wave-Wende-Kunst für die indischen und argentinischen Kuratorinnen genauso schwer lesbar sein wie für mich als deutsche Kartoffel die burmesische Performance. Trotzdem wird das hier, ohne viel Tamtam, als eine etwas surreale Story über Widerstand zusammengehängt –  als seien die Kuratorinnen und wir alle in unserem Unwissen automatisch Füchse, die das intuitiv begreifen.

Im Ausstellungsbegleiter verfasst Zascha Colah, auch in Anspielung auf die antikapitalistische, comicartige Kommandozentrale des burmesischen Künstlers Swangwongse Yawnghwe unter dem Dach der KW, die "Ansprache des Jokers". Das ist eine Art poetisches Manifest. Es beginnt: "An alle Gesetzlosen wie mich: Keine Kunst. Nur wilde Akte der Fantasie." Und: "Diese Ausstellung ist nicht thematisch. Sie ist propositional. Keine Identitätspolitik – sie holt sich die Solidarität zurück für all das, was wir nie waren, eine Gemeinschaft aus Hunger und Halbdunkel, Fleisch, das lose auf den Knochen sitzt." Die Ausstellung bewegt sich geschmeidig wie ein Stadtfuchs, schreibt Colah, "sammelt Objekte der Oralität, Sprachsplitter, im Frühlingsgestrüpp verfangene Atemfetzten". 

Keine Gesetzlose, sondern Elite

Das lässt an einen Hit der weißen, westlichen Postmoderne denken: "Fragmente einer Sprache der Liebe", den 1977 erschienenen Band des Semiotikers und Schriftstellers Roland Barthes, in dem es ultrasensibel und smart um Spielarten und Abgründe der Liebe geht. Den traditionellen politischen Diskurs mochte Barthes nicht, lieber entschlüsselte er die Mythen des Alltags. Ich liebe das Buch noch immer. Aber es steht heute für all das Woke und Elitäre, was ja auch vom Joker verachtet wird. Dabei ist Colah natürlich keine Gesetzlose, gehört mit zum Spitzenpersonal einer globalen Kunstwelt.

Die Kunst aus Myanmar und Südostasien spricht im Gegensatz zu den achtsam kuratierten Texten im Katalog, die auch viel auslassen, eine ganz andere, pragmatische, deutliche Sprache. Sie geht ungefähr so: "Das hier ist meine Freundin, sie trug bei der Aktion ein rotes Kleid, das ich nachgeschneidert habe, ihr Mann, der noch als Puppe neben ihr steht, ist schon tot, sie lebt im Exil". "In dieses Loch bin ich gesprungen, da war der Busch und da der Zaun". "Das war, als ich gefoltert wurde."  

Diese Sprache sagt: "Wenn ich nicht aufgebe, musst du es auch nicht tun, wenn du in derselben Lage bist. Auch du, oder deine Eltern oder Kinder, können erschossen, mit Bomben beworfen, in Konzentrationslager geworfen, gefoltert, wie Biomasse oder eine Fliege behandelt werden. Ich helfe dir, dir vorzustellen, wie das ist."  

Eine Person, die man gerade kennenlernt

Viele der Werke in der Biennale vermitteln diese Deutlichkeit, ohne belehrend zu wirken, sondern eher wie eine Person, die man gerade kennenlernt. Sie bringen einen tatsächlich ins Gespräch, besonders im alten, nicht sanierten Gericht in der Lehrter Straße, wo grandiose Arbeiten zu sehen sind. 

So etwa Merle Krögers Audioinstallation, die sich mit dem Selbstmord des jungen türkischen Aktivisten Cemal Altun 1983 beschäftigt. Der sprang wegen seiner drohenden Abschiebung bei einem Termin im Gericht Berlin-Tiergarten aus einem Fenster. Seine Familie erfuhr vor laufender Kamera während der Sendung "Panorama" von seinem Tod. 

Die meisten Arbeiten hier sind nicht so humorig oder optimistisch, etwa die Zeichnungen von Elshafe Mukhtar, die die ersten Tage des Krieges im Sudan, die Zerstörung von Kulturstätten und Museen schildern, den Beginn eines Konflikts, der eine extreme Hungersnot und eine der größten Flüchtlingskrisen der Welt auslöste. Auch die zweite Präsentation von Exterra-XX, der Künstlerinnengruppe aus Erfurt, die sich hier mit der Vernichtung von Stasi-Akten beschäftigt, sieht nicht mehr so kunterbunt aus. Sie erinnert an eine aktionistische Zelle.   

Das Rohe, Ungeklärte hervorholen

Immer wieder erwischt einen die Biennale durch solch genaue Setzungen, die das Rohe, Ungeklärte hervorholen; demonstrieren, dass wir auch in diesen katastrophal festgefahrenen Zeiten mitten in einem politischen Prozess mit ungewissem Ausgang etwas tun können und müssen. 

Doch genauso driftet sie unter dem Vorzeichen des "Nicht-Einengen-Wollens" dann auch ins Ungefähre, Beliebige, Anekdotische ab. Natürlich kann man in Zeiten des "Everything Everywhere All at Once" keine feste, eindeutige kuratorische Haltung beziehen. Es muss fluide bleiben. Doch zu den alten Relikten, die da ausgestellt werden, gehört auch die Idee, die Institution könne eine Zentrale des foxing sein, obwohl sie, besonders durch Sprache, die Machtverhältnisse mit erschafft. Die Mitarbeiter können nicht Füchse sein, sich höchstens als Füchse verkleiden. 

Dieser Widerspruch ist nicht schlimm, oder bigott, sondern interessant. Er betrifft uns alle. Und natürlich lässt er sich auch nicht durch klare politische Ansagen, vollendete Tatsachen beseitigen. Doch er muss formuliert werden, mit einer neuen, nicht-betulichen Sprache, die damit aufhört, immer auf der richtigen Seite stehen zu wollen, die Empathie suggeriert, aber zugleich weitermachen, an den alten Privilegien festhalten will.

Funkelnde Broschen der Macht

Wenn du Begriffe wie opacity, futurity, positionality, temporality, locality, orality im Gebüsch findest, schmeiß' sie doch einfach mal weg, piss drauf und denk dir selbst was aus. Denn das sind funkelnde Broschen der Macht, die glitzern wie Abzeichen eines Clubs, zu dem du als foxy fox nicht gehörst. Das ist akademische Poesie, die angesichts der Aggressivität der rechten, regressiven "Big beautiful bill"-Sprache, gegenüber all den Superlativen, Wiederholungen und Beleidigungen wie das letzte Einhorn rüberkommt. 

Ich möchte wetten, dass bei der Eröffnung 1000 progressive Menschen wie ich durch die Biennale liefen und aufgrund der eigenen, völlig grundlosen eurozentrischen Exzellenz überhebliche Sachen dachten wie: "Das sieht ja aus wie Volkshochschule, wie Kunstleistungskurs". Oder: "Das kann meine kleine Nichte Doris auch, sie ist fünf". "Das ist doch keine Kunst, sondern Agit-Prop". "Das ist doch Karneval der Kulturen." 

Und wahrscheinlich haben sich alle ein bisschen geschämt und sind schnell weitergelaufen, um diese Gedanken zu vermeiden. Aber wir sollten darüber sprechen, miteinander, mit den Menschen, die diese Kunst machen, die einen neuen Kunstbegriff wollen, der genauso notwendig ist wie eine neue Sprache. Diese Biennale markiert wirklich den Versuch eines Aufbruchs, an dem ganz unterschiedliche Menschen teilhaben könnten. Doch in ihrer wohltemperierten, poetischen, nie ordinären "Unlesbarkeit" stellt sie sich auch ein Bein. Das Unbekannte, Ungelöste tut immer weh. Wenn es nur Konsens gibt, wenn alle, von den bürgerlichen, konservativen Tageszeitungen bis zur linken Presse, gleichermaßen und ohne jede Kontroverse sagen, das sei super politische Kunst - dann stimmt etwas nicht.