Carlier Gebauer

In Berlin zeigt Marcellvs L, dass man aus der Zeit Skulpturen formen kann

Weil er nicht Philosoph werden durfte, wurde er Künstler. Mit 22 Jahren rief Marcellvs L sein „Rhizome“-Projekt ins Leben. Er produzierte Videos und verschickte sie an Adressaten, die er per Zufallsprinzip aus dem Telefonbuch auswählte – Inhalt und Distributionsweg orientierten sich am von Gilles Deleuze und Felix Guattari geprägten Begriff Rhizom und ihrer Idee, Wissen verbreite sich durch Brüche, Kreuzungen, Zufälle.

 

Die philosophische Fakultät der brasilianischen Heimatstadt Belo Horizonte aber bestand auf schriftlichen Seminararbeiten. Also brach er das Studium ab. Man muss das erwähnen, weil Schöngeister vor seinen Werken in interesseloses Wohlgefallen, Zyniker in Gähnen verfallen könnten.

 

Es passiert nicht viel in diesen Filmen. Ein Mann läuft eine Straße hinunter, Boote treiben im Meer. 40, 50 Minuten geht das so, die Kamera verharrt stets an einem Ort, eine einzige Einstellung. In den neuesten Arbeiten, die in Island entstanden und jetzt Carlier Gebauer in Berlin präsentiert, scheint die Handlung sogar noch weiter reduziert.

 

In 45 Weißen Nächten lief Marcellvs L durch Reykjavík, nahm die taghelle, schlafende Stadt auf. Geisterruhe herrscht auf den Straßen, allenfalls ein Vogel oder das Umschalten einer Ampel zeugen davon, dass auf den fünf im Galerieraum schwebenden Leinwänden keine Standbilder zu sehen sind.

 

Der Mehrkanalinstallation gegenübergestellt: die Aufnahme eines Pferds in einer Lavalandschaft. Tier und Steinmassen tiefschwarz, man erkennt nur ihre Umrisse vor einem gleißend hellen Himmel. Lange verharrt das Pferd in einer Position, dann beginnt es, sich zu bewegen, und wird plötzlich von den Felsen nicht mehr unterscheidbar. Wie in einem Kippbild wechselt das Figürliche ins Abstrakte, mischen sich Organisches und Unbelebtes.

 

In jedem der Videos finden sich diese Irritationen: Momente, in denen Formen zerfließen und neue entstehen, Chaos in Ordnung umschlägt, Kontingenz in Bedeutsamkeit.
Fast wichtiger: der Sound und die Schnittfolge. Die Schlagzeughiebe unter dem Gelände ploppen popcornartig, als könnte die Oberfläche jederzeit aufbrechen. Die Stadtaufnahmen begleitet ein paranoider Lärmteppich. Auf je zehn Minuten monotones Brummen folgt ein derart radikaler Bruch, dass die Zeit selbst als eigentliches Material erscheint, geformt zu einer Skulptur.

„Es ist eine Illusion, zu glauben, es reiche aus, die Welt anzuschauen, damit sie sich vor unseren Augen enthüllt“, sagt der Künstler. „Es dreht sich nicht darum, die Wirklichkeit zu manipulieren, sondern sie noch einmal zu erfinden.“ Marcellvs L zieht uns in dem Moment den Boden unter den Füßen weg, da sie einzuschlafen drohen. Auch so lassen sich Ethik und Ästhetik zusammenbringen.
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„VideoRhizome“, Kunsthalle Wien, bis 28. März. „Infinitesimal“, Carlier Gebauer, Berlin, bis 24. April.

Mehr Informationen unter www.carliergebauer.com/