Horrorfilm "Bird Box"

Alles Sehen ist Leiden

Sandra Bullock mit Vivien Lyra Blair und Julian Edwards in einer Szene des Netflix-Horrorthrillers "Bird Box"

In der neuen Netflix-Produktion "Bird Box" spielt Sandra Bullock eine Malerin, die sich mit verbundenen Augen durch die Postapokalypse schlägt. Der Horrorfilm setzt damit Überlegungen zu drastischer Kunst in Gang – verrät aber letztlich das eigene Genre  

Was macht man, wenn man sich verstörende Bilder vom Leibe halten will? Wer nicht einfach wegschaut (und damit die Verletzung akzeptiert), textet die Bilder vorschnell mit Interpretationen zu.

Für Künstler, die eine Wirkung erzielen wollen, ist beides eine bedauerliche Rezeptionshaltung. Zu Beginn des Horrorfilms "Bird Box" zeigt Malorie (Sandra Bullock) ihrer Schwester ein Bild, das sie gerade malt. "Ich sehe einen Haufen Leute", sagt die eher praktisch veranlagte Schwester beim Betrachten, "aber alle sind einsam." Die Einsamkeit sei nur ein Nebenprodukt, eigentlich gehe es um die Unfähigkeit, Beziehungen einzugehen, erklärt Malorie. Da wendet sich ihre Schwester vom Bild ab und der Künstlerin zu, als hätte sie die ertappt: Aha, es gehe also um die Sorge, dass die schwangere Malorie keine Beziehung zum Fötus in ihrem Bauch aufbauen kann!

Mit "Bird Box", der seit einigen Tagen auf Netflix läuft und in Deutschland den Untertitel "Schließe deine Augen" trägt, erzählt Regisseurin Susanne Bier vom Sehen und Wegsehen und damit selbstreferentiell auch von der Angst und der Lust, die drastische Kunst erzeugt. Kurz nach der missglückten Kunstlektion, in der die Banausen-Schwester die weiten Horizonte der Kunst auf die enge Biografie verengt, bricht draußen die Hölle los: Die Leute bringen sich massenweise um, weil sie – so stellt sich bald heraus – offenbar dämonische Wesen erblicken, die ihre unausprechlichsten Ängste verkörpern und sie in Wahnsinn und Spontan-Suizid treiben.

Wer überleben will, schließt also besser die Augen. Wer "Bird Box" zu Ende sehen und damit eine mögliche Erlösung oder zumindest Heilung miterleben will, lässt sie aber doch lieber offen.

Das ist der ewige Widerspruch der drastischen Bilder: Der bloße Anblick von Gewalt und Katastrophe kann traumatisch wirken; manche Opfer leiden ein ganzes Leben an Gesehenem. Und doch gibt es offensichtlich auch eine Lust am Schrecken: Wie die Zombies, die ihn bevölkern, ist der Horrorfilm als Genre nicht totzukriegen. In "Bird Box" wird dieses irritierende Vergnügen durch aus Anstalten enflohende Irre verkörpert, die es genießen, die ominöse dämonische Macht frontal anzustarren. Sie stürzt das Grauen nicht in Verzweiflung und Tod, sie wollen sogar die Augenbindenträger davon überzeugen, auch hinzuschauen und die Schönheit im Grauen zu sehen.

Für den ohnehin Versehrten ist zwar nicht das Entsetzliche selbst, aber doch dessen bildhafte Darstellung ein Trost, ist Drastik, wie Dietmar Dath einmal schrieb, "die kulturindustrielle Form, die das Selbstwunsch- und -angstbild von modernen Menschen annimmt, wenn die sozialen Versprechungen der Moderne nicht eingelöst werden." Es erfordert Disziplin, aufklärerische Genauigkeit und Wahrhaftigkeit, Drastik herzustellen und auszuhalten.

Leider weiß "Bird Box" dann doch nicht viel von diesen Zusammenhängen, sondern liefert Handung und Figuren nach bewährtem Strickmuster. Dass Malorie vor der Apokalypse Künstlerin war, spielt im weiteren Verlauf keine Rolle mehr und wirkt in ihrer Mutterwerdung und ihrem authentischen Überlebenskampf irgendwann nur noch wie eine zurückgelassene Schrulle. Kunst bleibt nach dem Ernstfall ein Hobby für Wahnsinnige, die Zeichnungen von den Dämonen anfertigen und damit friedvolle Menschen aufwühlen. So plädiert "Bird Box" dann tatsächlich überdeutlich fürs Wegschauen und gegen die Darstellung des Schreckens – und verrät damit das eigene Genre.

Dass es jetzt die läppische "Bird Box"-Challenge gibt, mit der Teenager in den sozialen Netzwerken zeigen, wie sie mit verbundenen Augen Aufgaben erledigen, ist da nur gerecht.