Die Realität als Filmkulisse

Das ist so Wes Anderson!

"The White Cyclone at Nagashima Spa Land", Detail, Kuwana, Japan
Foto: AccidentallyWesAnderson/Paul Hillerv

"The White Cyclone at Nagashima Spa Land", Detail, Kuwana, Japan

Was war zuerst da: die Welt oder ein Film von Wes Anderson? Ein neuer Reiseführer zeigt Orte, die aussehen und sich anfühlen, als wären sie pastellige Filmkulissen des US-Regisseurs

Ein klassizistisches zartrosa Haus mit kleiner Kuppel und Fenstern, die die pastellblaue bis türkise Farbe des beinahe wolkenlosen Himmels spiegeln. Warmes Licht fällt von der linken oberen Seite ein und spielt mit dem Rosa der Fassade, erleuchtet die kleine Kuppel und die Statuen auf dem Giebel. Wir stehen als Betrachtende vor dem Eingang des Hauses, abwartend, ob es uns auffordert einzutreten, oder ob jeden Moment ein Page mit lila Uniform hinausläuft, ob eine Hotelbesucherin in rotsamtenem Morgenmantel auf den Balkon treten und uns entdecken wird. Das Foto von dem hübsche Häuschen, das in Prag steht, stammt aus dem Projekt "Accidentally Wes Anderson" (AWA). Dieses sammelt Fotos von realen Orten auf der Welt, die wie aus einem Anderson Film gefallen aussehen. Nun ist eine Auswahl der Bilder als Buch erschienen.

Opulente Szenerien, durchkomponierte Bilder in Pastelltönen oder kräftigen, harmonischen Mustern - das alles gehört zur klassischen Bildsprache des US-Regisseurs Wes Anderson. Langsame, gerade Kamerafahrten erwecken den Eindruck, in ein Polaroid-Foto zu zoomen, die ausgebreitete Welt tatsächlich zu betreten. Die langsame Annäherung nimmt uns mit ins "Grand Budapest Hotel", zieht uns vorbei an den lila gekleideten Pagen, hinein in den Fahrstuhl, wo uns Ralph Fiennes in seiner Rolle als Gustave H. erwartet.

Die stehts frontale Sichtachse mit Fokus auf die Sprechenden vermittelt das Gefühl, unsichtbar dabei zu sein, den Film zu belauschen. Nicht selten sprechen die Darstellerinnen direkt in die Kamera, durch uns als Publikum hindurch, und wir werden Teil von Gesprächen zwischen Pfadfindern, Dokumentar-Filmschauspielern und Hotelmitarbeitern, immer still anwesend.

Lange Flurfluchten und rote Mützen

Andersons Filme wirken nicht selten wie ein Traum - die Schauplätze wie längst vergessene Orte. Der Filmemacher stellt durch die harmonische Farbwahl und die ruhige Kameraführung eine Ordnung her, die die oft skurrile Handlung abfängt. Der Regisseur setzt auf die Kraft der Vervielfältigung, die auch aus einem Spiegelkabinett stammen könnte: lange Flurfluchten mit der immer gleichen roten Tür werden im "Grand Budapest Hotel" durchschritten, Erwachsene Männer joggen mit roten Mützen im Film "Aquatic Life" nebeneinander her. Uniformität ist stets Teil der Inszenierung und führt durch ihre Übertreibung das Gezeigte ad absurdum. Ob unter dem Meer, in den Bergen von Zubrovka, oder einer mondsichelförmigen Bucht - dem "Moonrise Kingdom" -, die Bilder wirken immer leicht nostalgisch und erwecken dabei doch nie das Gefühl, in eine bestimmte Zeit oder einen realen Raum zu gehören.

Wie nah die Orte aus Filmen wie "Moonrise Kingdom" oder "Grand Budapest Hotel" an der Wirklichkeit sein können, zeigt das kollektive Foto-Projekt "Accidentally Wes Anderson". In den gesammelten Bildern ist die Symmetrie stets bestimmend. Graublaues Meer spannt sich über den Horizont, mittig geteilt von einem pfeilgrade in die See stechenden Steg, an dessen Ende ein Haus im gleichen Blau steht. Die einheitliche, stets frontale Sichtachse wird begleitet von der unendlich wirkenden Wiederholung der Bildelemente. Rote Kinosessel reihen sich dicht an dicht in einem riesigen Saal aneinander, zahlreiche türkise Waggons rasen auf einem Achterbahngerüst vor einem gleichfarbigen Himmel hinab.

"Eine Einladung, die Welt durch eine andere Linse zu betrachten"

Wally Koval startete das Projekt 2017 eigentlich als eine persönliche travel-bucketlist für seine Frau Amanda. Er teilte einige der Bilder mit dem Hashtag #accidentallywesanderson auf Instagram und fand schnell zahlreiche Nachahmer. Die Idee einer Serie entstand, und schon bald sammelte Koval mit Hilfe von crowdsourcing Bilder aus aller Welt und teilte sie online auf seiner Homepage oder auf Instagram, wo der Account schon über eine Million Fans gefunden hat. Die Bilder zeigen nicht nur farbenfrohe lost places, sie tragen auch stilistisch stets Andersons Handschrift - sehen aus wie harmonische Filmstills und schaffen in ihrer Gesamtheit eine Art Wes-Anderson-Moodboard mit täuschend "echten" Filmszenen, wobei keiner der Orte jemals ein Drehort für einen der Filme gewesen ist.

Instagram-Profile wie "Watts.Place", die wunderschöne Orte zeigen, oder Accounts, die Aufnahmen von lost places aus aller Welt sammeln, sind auf der Plattform keine Seltenheit mehr. Jeder einzelne Account strahlt eine bestimmte Form von Sehnsucht aus - das Bedürfnis, sich durch die Bilder für einen Moment an einen perfekten, von der altäglichen Welt losgelösten Ort zu begeben. Auch für Koval bedeuten die Bilder mehr als die ästhetische Ähnlichkeit zu Andersons Filmen. Durch das Projekt habe er gelernt, auf die perfekten Momente zu achten und Orte, die er seit seiner Kindheit kennt, in einem anderen Licht zu sehen. "Es ist eine Einladung, die Welt durch eine etwas andere Linse zu betrachten [...]. Es gibt so viel Schönheit im Alltäglichen", so Koval in einem Interview mit BBC Culture.

Was war zuerst da?

Nun erscheint eine Auswahl der Bilder als Buch. Im Sinne der Anfänge des Projekts als Reiseführer gedacht, sind zu jedem der ungefähr 200 Fotos Informationen zum abgebildeten Ort gesammelt. Wie nah die Bilder an der Ästhetik von Wes Anderson sind, bestätigt der Regisseur selbst, der das Vorwort geschrieben hat: "Ich verstehe jetzt, was es bedeutet, versehentlich ich selbst zu sein. Vielen Dank. Ich bin immer noch verwirrt, was es bedeutet, absichtlich ich zu sein, wenn das überhaupt das ist, was ich bin."

Aber sind die Bilder versehentlich Wes Anderson? Kaum ein Regisseur hat eine so einheitliche Ästhetik erschaffen, so einen hohen Wiedererkennungswert. Wirken reale Orte wie die des Projekts auf die Anderson'sche-Ästhetik? Oder wird nicht vielmehr die im Film gewählte Bildsprache in Fotografien von realen Orten reproduziert?

"AWA" legt auch eine faszinierend komplexe Beziehung zwischen Leinwand und Außenwelt offen. Die Bilder sind nach den gleichen formalen Aspekten wie die Filme aufgebaut und erschaffen so die Anderson-Ästhetik neu. Sie werden im Internet gesammelt als wären es Entwürfe für Bühnenbilder, weil die Menschen die Ästhetik aus den Wes Anderson Filmen im Realen wiedererkennen. Durch das Buch werden die Hightlights aus dem digitalen in den analogen Raum zurückgebracht. Und wer weiß, vielleicht tauchen einige der Orte aus dem Buch im nächsten Wes Anderson Film auf - besuchen will der Regisseur sie alle.