Carrie Mae Weems in Stuttgart

Der Finger in der richtigen Wunde

Man kann Frank Sinatra bewundern und gleichzeitig enttäuscht von ihm sein. Eine Ausstellung in Stuttgart zeigt eindrucksvoll, wie sich die Künstlerin Carrie Mae Weems weiße westliche Ästhetik aneignet und sie transformiert 

Eine schwarz gekleidete woman of color steht vor berühmten Museen, vor dem Louvre in Paris, dem Guggenheim Bilbao, dem Dresdner Zwinger. Die Frau, es ist Carrie Mae Weems selbst, kehrt uns den Rücken zu und blickt fokussiert in Richtung der gleichsam distanzierten und überlebensgroßen Repräsentionsarchitektur - dieser westlichen Musentempel. In Weems’ Fotografien der "Museums Series" (seit 2006) wird so eindringlich die Unterrepräsentation von Schwarzen Künstlerinnen und Künstlern in bedeutenden Museen problematisiert, denn mehr als ein Blick von draußen ist für diese oftmals immer noch nicht drin.

Carrie Mae Weems aber ist der Einzug in solche Museen inzwischen nicht mehr verwehrt, hat sie doch als eine der erfolgreichsten afroamerikanischen Künstlerinnen bereits im Metropolitan Museum of Art und dem Whitney Museum in New York ausgestellt. Gerade sind ihre Werke im Württembergischen Kunstverein in Stuttgart zu sehen. Gelungen ist ihr dieses auch deshalb, weil ihre Kunst an die dort anzutreffenden eurozentristischen Ästhetiken andockt. Diese lädt die Künstlerin dann aber mit neuen, eben nicht mehr nur weißen Inhalten auf. Vor allem die Ausgrenzung, das im Titel der Stuttgarter Ausstellung angesprochene Nicht-Gesehen-Werden von marginalisierten und diskriminierten Menschen, wird von ihr immer wieder thematisiert. Weems hat das produktive Spannungsverhältnis ihrer Kunst zu westlicher Ästhetik einmal auf den Punkt gebracht, als sie bekannte, dass sie die Musik von Frank Sinatra bewundere, aber gleichzeitig von ihr sehr enttäuscht sei. Frank Sinatra bedürfe daher, so fordert sie, der Schwarzen Aneignung, des reframings, etwa durch die Interpretation von "My Way" durch Nina Simone.  

In der Schau "The Evidence of Things Not Seen" wird diese künstlerische Strategie vor allem in der Fotoserie "Queen B." (2018 – 2019) deutlich. Im Mittelpunkt dieser Arbeit, die ursprünglich für das US-amerikanische Modemagazin "W" konzipiert wurde, steht die "Queen of Hip-Hop-Soul" Mary J. Blige, die von Weems im Stil opulenter Stillleben des niederländischen Barock porträtiert wird. Jetzt aber ist die woman of color nicht mehr eine bedienende Sklavin im Hintergrund. Stattdessen wird Blige als selbstbewusste und luxuriös gekleidete Protagonistin vorgestellt. Diese kritische Appropriation der Alten Meister gelingt Weems nicht zuletzt durch eine weitere Aneignung, nämlich durch die Übernahme der künstlerischen Methode der inszenierten Fotografie.

Immer eine subtile Kämpferin für Emanzipation

Rassistische Gewalt in den USA wird in den dokumentarischen Fotos der Installation "The Push, The Call, The Scream, The Dream" (2020) in den Fokus gerückt. Die mit Hilfe diverser Farbfilter nachbearbeiteten Medienbilder zeigen zum Beispiel die Beerdigung des Schwarzen Bürgerrechtsaktivisten Medgar Evers, der 1963 in Mississippi erschossen wurde. Sein Mörder blieb in zwei Prozessen straffrei und wurde erst 1994 verurteilt. Ebenfalls zu sehen ist eine Bildikone der Bürgerrechtsära aus dem selben Jahr, die zeigt, wie ein Polizeihund bei einer Anti-Rassismus-Demonstration einen nicht-weißen Passanten angreift. Der Mann hatte nicht mehr getan, als die Demonstration zu beobachten. Mit der Rahmung und der quasi "gedrehten" Hängung dieser künstlerisch verfremdeten Fotos zitiert Weems übrigens Präsentationsformen, die den US-amerikanischen Konzeptkünstler John Baldessari bekannt gemacht haben.

Zu den bekanntesten Werken Weems' zählt die Fotoarbeit "The Kitchen Table Series" (1990), in der alltägliche Szenen an einem Küchentisch gezeigt werden. Auf 20 Schwarz-Weiß-Fotografien, die von Texttafeln literarisch kommentiert werden, inszeniert Weems gesellschaftliche Rollenspiele, die die Situation von nicht-weißen Frauen im Patriarchat beleuchten. Als Mutter fungiert hier die Frau, als Geliebte, als Nachbarin, immer als subtile Kämpferin für Emanzipation. Die zum Teil von der Künstlerin selbst dargestellten Szenen finden in einer spärlich beleuchteten Küche statt, also dem Ort, der aus konservativer Sicht als Platz der Hausfrau definiert ist. Wichtig ist Weems bei dieser Arbeit, dass die hier ästhetisch verhandelten Probleme keine sind, die nur women of color betreffen. Auch weiße Frauen leiden nun einmal unter dem Patriarchat. 

In der überzeugenden Ausstellung werden auch erstmals Weems’ Fotografien ihres Projektes "Holocaust Memorial" (2013 – 2022) gezeigt.  In diesem Projekt hat die Künstlerin sich mit Peter Eisenmans Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin auseinandergesetzt. Fast schon tänzerisch schlängelt sich Weems da durch die quaderförmigen Stelen des Monuments und weicht so durch ihre Bewegungen dessen starre und minimalistisch-strenge Form auf. Die Annäherung an westliche Ästhetik erweist sich hier als eine performative Konfrontation, die mit Hilfe körperlicher Präsenz Eisenmans Denkmal belebt und zugleich aktualisiert. Und eben dadurch umso dringlicher den Finger auf die immer noch durch Rassismus und Diskriminierung verursachten Wunden legt.