Auch wenn es mittlerweile kaum einen Flecken in Europa gibt, der nicht schon einmal das Prädikat "Kulturhauptstadt Europas" trug, kann das EU-Label auch in Orten aus der "dritten Reihe" noch immer erstaunliche Kräfte freisetzen: Chemnitz als Kulturdestination beispielsweise hatten Kunstinteressierte bisher wohl kaum auf dem Schirm. Denn die drittgrößte Stadt Sachsens war eher als schrumpfendes ehemaliges Industriezentrum bekannt. Vom Zweiten Weltkrieg, dem Holocaust, der Ära des Sozialismus und der De-Industrialisierung ist Chemnitz so schwer gebeutelt wie kaum eine zweite Stadt in Deutschland. Gerade deswegen eröffnet der Titel die Möglichkeit, sich als Ort der Kultur zu präsentieren – und selbst zu erleben.
Das ehemalige Örtchen südwestlich von Dresden war innerhalb kürzester Zeit mit dem Aufschwung der Textil- und später der Maschinenbauindustrie zu einer wohlhabenden Großstadt gewachsen. Die Fallhöhe nach dem Zweiten Weltkrieg und erneut nach der Wende 1989 war beträchtlich. Die vorindustrielle historische Identität ist fast völlig ausradiert.
Von der Altstadt blieb nur ein einzelner Turm übrig, der völlig verloren zwischen Parkhaus, Saturn-Filiale und Karl-Marx-Großskulptur steht. Welkende Bauten des Sozialismus prägen seitdem das Stadtbild, klobige Blöcke mühen sich nicht, aus den überbreiten Straßen Räume und Plätze zu formen. In dieser zusammenhanglosen, post-utopischen Stadt-Collage finden sich dennoch einzelne Juwelen: Die Kunstsammlungen beispielsweise oder das Karl-Schmidt-Rottluff Haus auf Ebene der bildenden Kunst, sowie das klassisch-moderne Stadtbad von Fred Otto und Erich Mendelsohns ehemaliges Kaufhaus Schocken im Bereich der Architektur.

Stadtbad Chemnitz
Wie die boomende Industrie mit der Kunst zusammengeführt werden kann, hatte die Beziehung zwischen dem Strumpf-Magnaten Herbert Eugen Esche und seinem belgischen Jugendstil-Künstlerfreund Henry van de Velde einst in Chemnitz vorgemacht. Vor wenigen Tagen hat eine Ausstellung zu seinem Werk eröffnet. Aber die Symbiose blieb ohne Wirkung in der Breite der Gesellschaft. Der unerhörte Reichtum der Chemnitzer Fabrikbesitzer der Gründerzeit und ihr Kunstsinn scheinen heute wie Zeugen aus einer fernen Epoche.
Aus Anlass des Kulturjahres hat die Stadt nicht nur wie üblich ein umfassendes Programm aus Hunderten von Veranstaltungen jeder Art und Güte zusammengestellt, sondern – um nachhaltigere Effekte zu erzielen – auch neue Fahrradwege angelegt und beispielsweise eine Bach-Aue zum Stadtteil-Park umgestalten lassen. Derlei Interventionen sind sinnvoll, lassen die großen Fragen und Probleme einer schrumpfenden Stadt jedoch vorerst unbeantwortet.
Für die europäische Aufmerksamkeit, die der Titel mit sich bringt, haben Chemnitz und sein Umland versucht, aus Staub Diamanten zu pressen. Das größte Kunstprojekt des Jahres, der "Purpurne Pfad", versucht, mit den Mitteln eines klassischen Skulpturen-Parcours der Region zu einer Rolle im Kulturjahr-Geschehen zu verhelfen. An das Wahrzeichen der Stadt und Relikt der DDR-Ideologie, die große Karl-Marx-Büste des sowjetischen Künstlers Lew Kerbel von 1971, trauen sich Kuratoren und Künstler einstweilen leider nicht heran. Chemnitz, eine "Stadt der Moderne", ist offenbar noch ganz damit beschäftigt, ihre Zerstörung und ihren wirtschaftlichen Abstieg zu verkraften und ihre Wunden zu lecken, bevor sie Kräfte sammeln kann, ein neues Kapitel aufzuschlagen.
Das Ungesehene anschauen
Als Besuchs- und Informationszentrum wurde die Hartmann-Fabrikhalle nach einem Entwurf von Atelier n.4 umgebaut. Die ehemalige Produktionsstätte des "Lokomotivenkönigs" Richard Hartmann im Zentrum der Stadt stand lange leer. Im Rahmen einer Public-Private-Partnership wurde sie nun saniert. In dem Bau von 1864 wurden einst Werkzeugmaschinen hergestellt. Bis in die 1920er-Jahre gehörten die Hartmann-Werke zu den führenden Unternehmen ihrer Art in Sachsen. Die Sanierung der denkmalgeschützten Halle soll über das Jahr 2025 hinaus Sinn haben: Die Stadt hat einen Mietvertrag bis 2029 abgeschlossen, mit Option auf Verlängerung.
Das Motto des Kulturhauptstadtjahres, "C The Unseen" (sprich: see the unseen), ist eine Aufforderung, der dritten Stadt in Sachsen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn ihre Qualitäten, aber auch ihre gravierenden Probleme, sind exemplarisch für viele Orte ihrer Größe, nicht nur in Ostdeutschland und Mitteleuropa.

Die Chemnitzer Hartmannfabrik