Fotos von den Unruhen in Chile

Im Krieg gegen das eigene Volk

Seit dem Herbst 2019 protestieren viele Chilenen für mehr soziale Gerechtigkeit. Mit welcher Brutalität Polizei und Militär gegen die Demonstrierenden vorgeht, zeigt aktuell eine Fotoausstellung in Berlin. Doch es gibt Hoffnung auf ein besseres Morgen

Es begann im Oktober 2019 mit studentischen Protesten. Die U-Bahnpreise in Chiles Hauptstadt Santiago sollten um 30 Pesos (circa 3 Euro-Cent) erhöht werden, was den Unmut vieler junger Leute auf sich zog. In atemberaubenden Tempo eskalierte der Protest. Es gehe nicht um 30 Pesos, sondern um die 30 Jahre seit dem Ende der Pinochet-Diktatur: "No son 30 pesos, son 30 años" wurde ein Schlachtruf der sich schnell vergrößernden Bewegung. Seit drei Jahrzehnten lässt die Aufarbeitung der Gräueltaten des Regimes auf sich warten, das südamerikanische Land schlug einen radikal neoliberalen Weg ein, die Unterscheide zwischen arm und reich wurden größer. Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty geht davon aus, dass ein Prozent der Chilenen 35 Prozent des Reichstums besitzen - was Chile zum ungleichsten Land der Welt macht.

Gegen dieses Missverhältnis protestiert seit Oktober 2019 ein breites Bündnis Unzufriedener auf den Straßen und Plätzen Santiagos - und Sicherheitskrägte gehen mit unfassbarer Härte gegen den Protest vor: mit Tränengasgranaten, Gummigeschossen und Knüppeln. Hunderte Menschen haben dabei schwere Augenverletzungen erlitten. Die konservative Regierung um Präsident Sebastián Piñera verspricht Aufklärung, aber bis auf das Verbot von Gummigeschossen ist bislang wenig geschehen.

Ein fotografische Bestandsaufnahme der durch die Pandemie gebremsten Proteste liefert nun eine Gruppenausstellung in der Fotogalerie Friedrichshain. Unter dem Titel "Chile erwacht" (auch das eine Parole der Portestierenden) sind beeindruckende Bilder zu sehen, die manchmal wie historische Schlachtengemälde anmuten, die aber auch zeigen, mit welchem Mut und welcher Kreativität die Menschen gegen die stumpfe, anonyme Gewalt angehen.

Im letzten Ausstellungsraum lassen historische Fotos von José Giribás aus den Jahren 1989/90, der Zeit des Systemswandels also, eine Kontinuität der Protestbewegungen erkennen: Die gleiche energiegelandene Hoffnung in den Gesichtern, der Trotz und die Hartnäckigkeit, die das Ende der Pinochet-Militärregierung einläutete, bringt auch heute das "Erwachen" Chiles. Vor wenigen Tagen sind zum ertsen Mal die Mitglieder der Verfassungsgebenden Versammlung zusammengekommen, die ein neues Grundgesetz erstellen und das Erbe des Regimes aufarbeiten sollen. Mit Elisa Loncón hat dieses Gremium sich eine Indigene als Vorsitzende gewählt. Sie steht für eine neue Politik und eine Hoffnung, die sich die Chilenen nicht durch Polizei- und Militätgewalt haben nehmen lassen. Die Ausstellung "Chile erwacht" ist somit auch ein Dokument des Weges zu einem neuen Land.