In seinem neuen Kinofilm "Miroirs No. 3" erzählt Christian Petzold von der Klavierstudentin Laura (Paula Beer) aus Berlin, die nach einem Unfall auf dem Land ein Refugium findet. Bemuttert von Betty (Barbara Auer) fasst Laura wieder Lebensmut, aber sie stößt in der neuen Umgebung – ein Haus am Dorfrand, eine von Erinnerungen belastete Familie (Auer, Matthias Brandt, Enno Trebs) – auch auf den Schmerz der Anderen.
Wie Maurice Ravel in seinem titelgebenden Klavierstück arbeitet Petzold mit Wiederholungen, Variationen und tonalen Verschiebungen – und greift auf Motive und Erzählstrategien seiner früheren Filme zurück. Das Gespräch mit dem deutschen Regisseur über Gespenster, US-amerikanische Kinomythen und seine Sturheit beim Schluss seines aktuellen Werks fand im August statt. Die zum Interview mitgebrachte Monopol-Sommerausgabe mit Hernan Bas’ Covermotiv – ein Mann inmitten wilder Vegetation – gefiel Petzold. Und er griff das Heft-Thema "Traum" prompt in seiner ersten Antwort auf.
Christian Petzold, Ihr neuer Film fängt mit Verkehrslärm an, dann sehen wir eine lebensmüde Paula Beer, die von einer Berliner Brücke hinunter zum Spreeufer geht. "Miroirs No. 3" beginnt zwar in der Stadt, aber mit Wasser und Grün. Die weitere Geschichte ereignet sich auf dem Land. Ist das Thema Stadtflucht auch ein persönliches?
Überhaupt nicht. Ich lebe gern in Berlin. Danke übrigens für das Monopol-Heft, das Sie mir mitgebracht haben …
… unsere Sommerausgabe mit dem Titelthema Surrealismus.
Da wird auf dem Button gefragt: "Wovon träumt die Kunst?". Das Kino ist ja auch an den Träumen der Menschen interessiert, wobei sich die Träume in Berlin in den vergangenen 30 Jahren sehr verändert haben. Viele Leute wünschen sich raus aus der Stadt, in die Umgebung. Aber was ist, wenn die Träume in Erfüllung gehen? Ich habe einmal Anton Tschechows Erzählung "Das neue Landhaus" gelesen. Darin kauft ein Moskauer Ingenieur mit seiner Ehefrau ein Stück Land. Das heruntergekommene Anwesen wird renoviert, das geht so zwei, drei Jahre. Und als das letzte Fenster eingesetzt ist, ist die Liebe dahin. Weil die ganze Liebe in das Projekt gesteckt wurde.
Sowas passiert nicht nur bei Tschechow, oder?
Nein, auch hier und heute. Wenn ich zum Scharmützelsee fahre oder in die Uckermark, sehe ich viele gut renovierte Häuser von wohlhabenden Leuten, die sich ihre Träume erfüllt haben.
Gebaute Träume?
Und auch erstarrte Träume. Denn ich habe oft den Eindruck, dass in diesen Häusern nie oder nur sporadisch gewohnt wird. Vielleicht am Wochenende, vielleicht mal im Sommer. Viele Häuser stehen offenbar leer. Es sind Traumruinen. Da Kino auch von Träumen handelt, die scheitern, die versickern, die zu Alpträumen mutieren, war das ein guter Stoff für einen Film. Aber es ist nicht so, dass ich gern selbst ein Haus in Brandenburg hätte. Um meine persönlichen Träume geht’s gar nicht.
Kommen wir also zu den Filmfiguren. Die von Paula Beer gespielte Klavierstudentin Laura überlebt einen Autounfall, bei dem ihr Partner ums Leben kommt. Das passiert mitten in der Uckermark. Betty (Barbara Auer) lebt allein in einem Haus am Dorfrand, wird Zeugin des Unfalls und nimmt die äußerlich unversehrte Laura auf. Paula Beer lässt sich auch gern adoptieren. "Miroirs No. 3" erzählt von einer innigen, aber unechten Mutter-Tochter-Beziehung, ich musste ein bisschen an Douglas Sirks "Imitation of Life" oder andere Melodramen denken. Bei Sirk geht es ja auch oft um erstarrte Gefühle, die zu Objekten werden – in Ihrem Fall: das Haus. Barbara Auer und Matthias Brandt sind hier das Paar, von dem Sie eben gesprochen haben, das sich ein Traumhaus gebaut und die Liebe verloren hat.
Das Tschechow-Paar, genau.
Matthias Brandts Figur lernen wir erst später im Film kennen, ebenso wie den von Enno Trebs gespielten Sohn, der mit seinem Vater eine Kfz-Werkstatt betreibt. Mir ist aufgefallen, dass man von der Vergangenheit dieser Familie peu à peu so einiges erfährt. Aber Laura bleibt ein unbeschriebenes Blatt – besser gesagt, sie bliebe es, wenn Paula Beer die Schwermut ihrer Figur nicht so eindringlich verkörpern würde.
Dazu muss ich sagen: Wir hatten mehr mit Paula Beer gedreht. Wie sie als Klavierschülerin in der Universität der Künste übt, wie sie andere Studierende trifft, und so weiter. Im Schneideraum habe ich aber einen späteren Anfang gesetzt. Das ist schon notorisch, dass ich das Material der ersten zwei Drehtage praktisch wegschmeiße. Wir drehen in der Regel chronologisch, und die Anfangsszenen können immerhin den Schauspielern helfen, in die Rollen hineinzukommen.
Sie haben ein Intro mit Paula Beer gedreht und dann vernichtet? Wie fand die das denn?
Sie wollte den Grund wissen. Da habe ich rhetorisch zurückgefragt, ob sie die Vorgeschichte von "Alice im Wunderland" kenne? Natürlich nicht, denn Alice bekommt ihre Identität durch das, was sich ereignet. Und eben nicht durch das, was wir ihr anhängen. Während der Corona-Zeit haben wir alle die beknackten Filme bei Netflix oder Amazon-Prime heruntergeladen. Und konnten beobachten, was für eine miese Dramaturgie sich in den vergangenen 20 Jahren eingeschlichen hat.
Welche denn?
Grob gesagt: Am Frühstückstisch wird zu Beginn eines schlechten Films immer über Berufe und Problemlagen der Hauptfiguren informiert. Alles wird in den Dialog gepackt. Ich möchte mich dagegen lieber an Lewis Carrolls Alice orientieren, die wir in dem kennenlernen, was ihr im Wunderland widerfährt und wie sie darauf reagiert. Dementsprechend habe ich von Laura erzählt, die nach dem Unfall von einer fremden Frau gefunden wird. Von Laura, die nicht nach ihrem Nachnamen, ihrer Familie, ihrem Beruf gefragt wird. Für Barbara Auer ist sie einfach nur Laura. Hier ist dein Bett. Und da ist dein Essen. Schau mal, das ist der Kräutergarten. So streicht man einen Gartenzaun. Hier hast du ein Fahrrad ... Wir sehen, wie Paula Beer es genießt, noch einmal neu geboren zu werden und eine neue Identität zu bekommen.
Das hat natürlich unheimliche Untertöne. Die eigentlich zufällige Begegnung zwischen Barbara Auer und Paula Beer wirkt in Ihrer Geschichte zwangsläufig. Als würde Betty Laura qua Willenskraft magisch in ihren Bannkreis ziehen. Ich habe das einsame Haus auch als Hexenhaus gesehen.
Ja, wir haben Barbara Auers Figur beim Dreh auch "die Hexe" genannt. Deswegen pflanzt und pflegt sie ihre Kräuter. Und serviert Laura einen Kräutersud. Hexen kennen sich mit Kräutern aus.
Vor 20 Jahren haben Sie "Gespenster" gedreht. Julia Hummer spielt eine jugendliche Außenseiterin in Berlin, die von einer wildfremden Frau, Marianne Basler, für deren Tochter gehalten wird – und diese Identität auch annehmen möchte. Die Französin hatte ihr dreijähriges Kind durch eine Entführung verloren und klammert sich Jahre später noch an die Idee, sie könne ihre Tochter in Berlin wiederfinden. Unvergesslich ist mir die Geste der knochigen Hände von Basler, die nach ihrem vermeintlichen Kind Julia Hummer langt. Wie eine Hexe. Bei "Miroirs" hatte ich den Eindruck, dass Sie die "Gespenster"-Geschichte noch einmal neu erzählen – mit positiverem Ausgang.
Das stimmt. "Miroirs" spiegelt "Gespenster". Aber der Film war so trostlos. Der einzige Trost darin kam von einer Bach-Kantate – Musik für eine Trauerfeier. Die Mutter, die ihr Kind verlor, wird weiter trauern, und Julia Hummer ist am Schluss auf sich selbst zurückgeworfen. Beide bleiben unerlöst. Ich habe mir immer gewünscht, die Geschichte so zu erzählen, dass die Lügengeschichte am Ende zu einer Befreiung führt. Eine junge Frau wünscht sich eine Familie, eine Familie wünscht sich die Reinkarnation einer verstorbenen Tochter herbei. Dem "Gespenster"-Stoff liegt das Grimm-Märchen "Das Totenhemdchen" zugrunde, das ich den Schauspielern jetzt wieder erzählt habe: Ein Kind stirbt, die Mutter kann nicht aufhören zu weinen, bis ihr das Kind nachts im Totenhemd erscheint und sagt, die Mutter müsse doch aufhören zu weinen, damit sein Totenhemdchen trocken wird. Barbara Auer muss lernen loszulassen, Paula Beer lernen zu gehen.
Lauras Aufbruch war im Drehbuch aber gar nicht vorgesehen, habe ich gehört. Was ist passiert?
Ich hatte früh gemerkt, dass in der Geschichte etwas nicht stimmt. Das Ende war falsch, aber ich konnte mir das nicht eingestehen. Ich war ganz verliebt in den finalen Drehbuchsatz: "Und Laura tritt in den Raum der Familie ein" – und ich bestand auf diesen Schluss, obwohl die Darsteller mir schon beim Dreh gesagt hatten, dass er nicht funktioniert. Beim Schnitt mit Bettina Böhler habe ich es dann auch gemerkt: Die Idee, dass Laura für ihr restliches Leben in die Fußstapfen der toten Tochter tritt, ist furchtbar, nichts als ein kleinbürgerlicher Wunschtraum. Diese Erkenntnis hat mich sehr deprimiert. Aber das ist das Tolle am Kino: Es ist eine kollektive Traummaschine, alle Beteiligten träumen mit. Zwei Monate nach Abschluss der Dreharbeiten, im Dezember, habe ich gesagt: Das Ende ist falsch, wir müssen nachdrehen. Große Erleichterung beim Team.
Enno Trebs spielt Max, den Sohn von Auer und Brandt. Zwischen Max und Laura funkt es, aber die Beinahe-Liebesgeschichte reibt sich mit der Rolle der Tochter, die Laura angenommen hat. Max brüllt sie irgendwann an: "Du bist nicht meine Schwester!", und das ist der Anlass für Laura, die Familie zu verlassen. Stand Enno Trebs’ Ausruf schon im Drehbuch, oder ist das ein sozusagen rebellischer Satz des Darstellers?
Nein, der stand schon im Drehbuch. Aber ich hätte auf Max hören sollen, der seinen Widerwillen ausdrückt. Ich habe stattdessen viel zu lange auf meinem Biedermeiertraum von Lauras Rückkehr in den Schoß der Familie beharrt, dass sie zurückkommt und die Gespenstertochter für ihr restliches Leben wird. Aber das ist das Gegenteil eines Happy Ends, ein richtiger Alptraum. So richtig großkotzig habe ich trotzdem gemeint, das sei einer der besten Filmschlüsse, die ich je geschrieben habe. Und die Skeptiker aus dem Team müssen gedacht haben: Na gut, wenn der so von sich überzeugt ist, dann wird was dran sein. So war’s aber nicht, und Paula Beer und Enno Trebs lachten laut los, als ich den Nachdreh verkündete.
Paula Beer, Matthias Brandt und Barbara Auer waren schon in größeren Filmrollen bei Ihnen zu sehen. Enno Trebs ist – mit zwei kleineren Parts – erst später zum Petzold-Stamm dazugestoßen. Ein sehr wandlungsfähiger Schauspieler, finde ich.
Ja, und er glänzt auch in kleinen Rollen, ohne sich in den Vordergrund zu spielen. In "Undine" spielte er einen Kellner, damals hat er mich sehr zum Lachen gebracht. In "Roter Himmel" bekam er dann schon eine größere Rolle. Ich erinnere mich an das Bergfest zur Mitte der "Undine"-Dreharbeiten, da wurde Poolbillard gespielt. Statt zu sagen: "Lass mich auch mal ran", saß Enno die ganze Zeit neben dem Tisch und hat zugeschaut. Und ich habe ihn dabei beobachtet und gedacht: So müssen Schauspieler sein, die müssen nicht immer sofort mitmischen, sondern sind neugierig und aufnahmefähig.
Das erinnert mich an Oliver Hardy, von dem Stan Laurel sagte, er sei der viel bessere Schauspieler gewesen. Laurel führte das darauf zurück, dass Hardy, Sohn einer Hotelbesitzerin, als Kind die Gäste beobachtet und dann imitiert hatte.
Ja, das ist gut. So ein Typ ist Enno Trebs. Und er kann auch toll Sachen anfassen, was keine Selbstverständlichkeit ist. Er hat sich als perfekte Besetzung für den Kfz-Mechaniker Max erwiesen.
Matthias Brandt spielt seinen Vater, dem die Werkstatt gehört. Dieser Schauspieler als Werkstattbesitzer, das liest sich auf dem Papier wie eine Fehlbesetzung, obwohl es im Film funktioniert …
Nur in Deutschland glauben die Leute, dass ein Brillenträger, der Subjekt, Prädikat und Objekt in die richtige Reihenfolge bringt, keinen Automechaniker spielen kann. In den USA dagegen wundert sich niemand über Tom Cruise oder Harrison Ford als Uniprofessor.
Ich muss mal darüber nachdenken, ob es wirklich so ist, dass es im US-Kino und anderswo kein typecasting gibt … Aber das bringt mich auf eine andere Frage, die mir ein spanischer Kollege gestellt hat: Warum gibt es kaum gute deutsche Kinofilme?
Als ich 2023 in San Sebastián in der Festivaljury saß, hat mich die Jurypräsidentin Claire Denis dasselbe gefragt. Die Antwort fällt nicht leicht. Aber ich schätze, wir Deutschen haben ein Identitätsproblem, das sich etwa darin zeigt, dass deutsche Schauspieler Ermittler in Krimiserien verkörpern müssen, die in Istanbul, Lissabon oder Venedig spielen. Warum müssen wir deutsche Darsteller zu Portugiesen oder Italienern machen? Was glauben wir, wer wir sind? Sind wir denn nicht neugierig auf das Fremde? Ich denke, dass das Ausland von uns gelangweilt ist, weil wir gar nicht von uns erzählen, sondern so tun, als ob Lissabon Solingen wäre. Wenn ich Filme aus Frankreich, Rumänien oder Dänemark sehe, geht mir das nicht so. Ein Joachim Trier schämt sich null, seine Filme in Oslo spielen zu lassen.
Aber Stoffe von anderswo inkorporieren Sie ja schon in Ihre Filme: französische Musik in "Miroirs No. 3" oder Western-Motive der Amerikaner.
Es gibt eine Art amerikanischen Traum im deutschen Film. Das Kino, dem ich meine Sozialisierung als Filmemacher verdanke, das ist zum Beispiel die Münchner Gruppe um Max Zihlmann, Rudolf Thome und Klaus Lemke. Die haben das US-Kino nach Deutschland transponiert. Und da kann man noch Rainer Werner Fassbinder oder Wim Wenders dazunehmen. Wenders hat einmal sinngemäß gesagt: "Wir machen Filme in Deutschland, die amerikanisch sind und sich nicht schämen in Deutschland zu spielen." Wenn die deutschen Kids in Cadillacs oder auf Harley-Davidsons sitzen, dann bleiben sie doch deutsche Jugendliche, die amerikanische Filme gesehen haben. Was Claire Denis und andere meinen, ist die Tatsache, dass viele deutsche Filme ihre Herkunft verleugnen.
Wir haben uns 2003 bei der Berlinale-Premiere von "Wolfsburg" kennengelernt und seitdem über nahezu jeden Petzold-Film ein Gespräch geführt. Seit damals hat sich die Weltlage deutlich verschärft. Aber aktuelle Krisen kommen in Ihren Filmen kaum vor. Sind ihre Filme Refugien, in denen die krasse Wirklichkeit ausgespart wird?
Sie wird transformiert, glaube ich. Wie Sie wissen, bin ich dem amerikanischen Kino verfallen. Die "Antike" der USA, das sind der Sezessionskrieg und der gewaltsame, imperialistische, kolonialistische Versuch, ein Land zu beherrschen. Für diese Geschichte wurde die Form des Western gefunden. Da gibt es eine Saloon, ein Hotel, einen Barbershop, eine Straße. In diesem Mikrokosmos mit sieben, acht Leuten und einem überschaubaren Konflikt ist die gesamte Geschichte der USA enthalten. Und Western sind keine Gleichnisse. Da sehen wir ja echten Staub, wirkliche Waffen, realistisches Sterben. Und zugleich ist der Western-Mythos eine Konstruktion, wie ein antikes Theaterstück, das fragt: Wo kommen wir her, wo wollen wir hin? Und in der Drehzeit von "Miroirs No. 3" habe ich die ganze Zeit gedacht: Warum geht es hier die ganze Zeit ums Reparieren? Wir zeigen eine Werkstatt, davor stehen 30 Autos, die noch repariert werden müssen. Es werden im Film Zäune gestrichen, Fahrradreifen geflickt, ein Kräutergarten neu angelegt, ein Klavier gestimmt und – am Ende – auch Seelen repariert. Die Frage ist aber: Schaffen wir das überhaupt, unsere verletzten Seelen, unser verkorkstes Denken zu heilen? Die Politik ist damit überfordert. Reparatur im weiteren Sinn ist eher eine Aufgabe der Kunst, schätze ich.
Reparatur ist ein Schlüsselbegriff für den Künstler Kader Attia. Bei ihm bedeutet das nicht zuletzt Transformation. Die Wunden und Narben bleiben sichtbar. Der Schmerz verschwindet nicht. Entspricht das Ihrer Auffassung von Kunst und Kino?
Das Prozesshafte ist wahrscheinlich für mich das Politische am Kino. Ich mag jedenfalls keine Filme, die versuchen, politisch zu sein, indem sie Figuren mit einem politischen Nimbus einsetzen. Das wäre jetzt zum Beispiel eine Ukrainerin in Berlin, die sich nach ihrer zerschossenen Heimat sehnt. Diese Art Kino ist für mich unvorstellbar. Als ich im Dezember 2023 für eine Retrospektive meiner Filme im Lincoln Center in New York war, habe ich viel mit Dennis Lim, dem künstlerischen Leiter des New York Film Festivals, darüber gesprochen, mit welcher Art Filmstoff man todsicher Geld bekommen könnte. So ein Projekt, auf das alle anspringen würden, haben wir "The Lemon Tree" genannt: Ein Zitronenbaum steht am Rand des Gazastreifens, es ist der Treffpunkt für einen israelischen Jungen und ein palästinensisches Mädchen. Sie malen sich eine gemeinsame Zukunft als Liebespaar aus, aber dann wird es ganz schlimm zwischen den Palästinensern und den Israelis und die beiden müssen sterben in diesem Konflikt. Der Film würde damit enden, dass der Zitronenbaum blüht, und eine Zitrone hängt dran. Mit so einem Skript kannst du in Europa richtig viel Geld einsammeln, da bin ich mir sicher.
Wir müssen noch über die Musik reden. Der Titel "Miroirs No. 3" bezieht sich auf ein Klavierstück von Maurice Ravel. Ich glaube, die Frage des musikalischen Flusses kann man überhaupt auf die Konzeption Ihrer Filme beziehen, oder?
Ja, kann man. Aber um den Western-Titel von Otto Preminger abzuwandeln: Meine Filme sind ein "Fluss mit Wiederkehr". Das dritte Stück der Klaviersuite "Miroirs" von Ravel trägt den Titel "Die Barke auf dem Ozean". Diese Musik hat mir unheimlich gefallen, denn sie funktioniert wie Ebbe und Flut. Das Hauptmotiv taucht immer wieder auf, aber jedes Mal in leicht veränderter Form. Das Bild eines Ruderboots auf hoher See hat den Film ebenso geprägt. Ich habe den Schauspielern erklärt: Kinogeschichten beginnen, wenn das Schiff untergegangen ist. Nach dem Schiffbruch beginnen die Kameras zu laufen. Denn hier fängt der Kampf ums Überleben an. Da treiben Trümmer und Überlebende auf dem Wasser, und die Menschen versuchen, eine Gruppe zu bilden. Die Aufgabe der Filmemacher ist: Wie bauen wir aus den Trümmerstücken der Katastrophe ein Rettungsfloß zusammen? In dem Moment entsteht die Geschichte. Und "Miroirs No. 3" erzählt von Menschen, die es schaffen, ein Boot zu bauen, das sie trägt. Wenn das gegeben ist, kann der Film aufhören.