Themenschau in Riga

Was ist deutsche Kunst?

Eine Ausstellung für die lettische Kapitale Riga punktet mit deutscher Kunst seit den 60ern

Aus einer nebligen, von flachem Wasser überschwemmten Landschaft ragt ein Kubus. Auf dem Klotz aus Mauersteinen ist oben Stacheldraht angebracht. Seltsamerweise stecken "Die Gefangenen" des Gemäldetitels nicht im Inneren des Gemäuers. Vielmehr umrundet eine Schar Männer in orangefarbener – also typisch US-amerikanischer –Gefängniskluft den Kubus, als kreisten Trabanten um einen Planeten. Ist Ruprecht von Kaufmanns Gemälde ein typisch deutsches Bild?

Was es mit anderen Gemälden und Wandarbeiten in der Gruppenschau "Wahlverwandtschaften. Deutsche Kunst seit den späten 1960er Jahren" verbindet, ist die schiere Größe, es ist fünfeinhalb Meter breit und zwei Meter 70 hoch. Andreas Gurskys Foto des Aletschgletschers, Holzschnitte von Anselm Kiefer oder Gert und Uwe Tobias, Gemälde von Albert Oehlen, Jonathan Meese, drei Werke von Sigmar Polke, ein Cinemascope-Gemälde von Neo Rauch, eine Gold- und-Silberfolien-Assemblage von Anselm Reyle: Monumentalität ist eine feste Größe in der ersten umfassenden Ausstellung deutscher Gegenwartskunst in Riga.

Ort ist der Ausstellungssaal Arsenāls des Lettischen Nationalen Kunstmuseums. Nach dem prunkvollen Museum selber handelt es sich beim ehemaligen Zeughaus um den größten Kunstsaal Rigas – der dennoch eher zu klein ist für die 77 Werke von 53 deutschen Künstlern, die Mark Gisbourne zusammengestellt hat. Der seit langem in Berlin lebende, aus der Shakespeare-Stadt Stratford-on-Avon stammende Kritiker und Kurator sah sich vor die anspruchsvolle Aufgabe gestellt, dem lettischen Publikum anhand einer Werkauswahl einen Crashkurs in jüngerer deutscher Kunstgeschichte zu bieten.

Vier an den Rändern fließende Sektionen gliedern die Schau: Expression, Imagination und Subjektivität – Geschichte und Geschichten – Abstraktion und Konzeption – Präsentation und Kritik. Die letztgenannte Abteilung setzt in den 80er-Jahren ein, in einer Epoche, in der Künstler sich, ihre Praxis und Institutionen verstärkt kritisch reflektieren. Werke von Rosemarie Trockel, Christiane Möbus, Katharina Fritsch und Katharina Grosse zeugen davon, dass sich Künstlerinnen seit gut 30 Jahren auf breiterer Ebene durchsetzen können. Bilder des umtriebigen Martin Kippenberger sind ein schlagendes Argument für die übergeordnete Idee der "Wahlverwandtschaften".

Obwohl man gleich an Goethe denkt, ist Gisbourne die ursprüngliche chemische Bedeutung des Begriffs wichtiger: Affinität, die Triebkraft einer chemischen Reaktion, eine Bindung einzugehen. Sieht man von der DDR-Doktrin des sozialistischen Realismus ab (das einzige Werkbeispiel stammt von Willi Sitte), existiert in der deutschen Nachkriegskunst kein Nationalstil. Künstlergruppen gibt es schon, aber ohne verbindliches Programm und klare formale Überschneidungen. Ein Künstler wie Kippenberger wurde gerade in seiner Unberechenbarkeit, seiner medialen und formalen Vielfalt zu einer verbindenden Figur.

Eine durchdachte Präsentation macht aus der Not des beschränkten Raums eine Tugend. Den glitzernden Reyle von 2013 hat der Kurator so hängen lassen, dass man ihn nur auf dem Rückweg durch den Parcours bemerkt, die Arbeit hätte "jeden Nachbarn überstrahlt", so Gisbourne. Viele Kombinationen sind erhellend, darunter die Generationen übergreifende Affinität zwischen Jorinde Voigt und Hanne Darboven. Beide Künstlerinnen arbeiten mit spezifischen Notationssystemen. Manche Gruppierungen wirken problematisch, etwa im Fall einer in Acryl gemalten Architekturfantasie von Martin Kobe gleich neben einem abstrakten Gemälde von Gerhard Richter, dem teuersten Bild der Ausstellung. Diese Bilder haben nichts miteinander gemein, sie passen bloß farblich gut zusammen. An dieser Stelle wird die vorgebliche Wahlverwandtschaft zum kuratorischen Kurzschluss.

Deutschland hin oder her: Was man der Ausstellung auf jeden Fall attestieren muss, sind starke Exponate. Norbert Biskys zwischen hedonistischem Genuss und Weltuntergang schwankendes Gemälde "Übergepäck" ist einfach ein fesselndes Bild, nur die zusammenstürzenden Plattenbauten am unteren Rand verweisen noch auf die Herkunft des in Leipzig geborenen Künstlers.

Auch für kunstbegeisterte Letten dürften Werke wie "und dann auf Sterne sehn" (2015) eine Entdeckung sein: Gregor Hildebrandt hat aus aufgespulten Cassettenbändern eine dunkel schimmernde Mosaik-Assemblage gefertigt, aus der die weißen Spulen tatsächlich wie Sterne herausglänzen. Zu den starken skulpturalen Werken zählen Sabine Hornigs zur quasi-architektonischen Installation erweitertes Foto einer Berliner Baustellen-Szene. Das Bild erinnert an Caspar David Friedrichs "Eismeer" und dockt so an deutsche Kunstgeschichte an. Philipp Fürhofer, der als Künstler und Bühnenbildner arbeitet, zitiert im Titel einer 2 Meter 40 hohen Stele aus Acryl – "Mein Schicksal reißt mich fort" – eine Zeile aus Carl Maria von Webers romantischer Oper "Der Freischütz". Die Innenbeleuchtung der halbverspiegelten Skulptur blinkt in langsamem Rhythmus, sodass die Stele fortwährend ihr Aussehen ändert. Der deutsche Wald wird zum Dschungel aus Stromkabeln.

Immer wieder stößt der Betrachter auf deutsche Symbole: Eine Uniformmütze in Markus Lüpertz’ "Arrangement für eine Mütze", das Brandenburger Tor in einem Gemälde Karl Horst Hödickes, das er zum Jahreswechsel 1989/90 in Schwarz, Rot und Gelb malte. Ein Foto Bettina Pousttchis zeigt die temporäre Kunsthalle in Berlin, mit einer Fotoplane als Palast der Republik verkleidet.

In vier parallel laufenden Filmen (Videoinstallation "Ship of Fools") zeigt Julian Rosefeldt deutsche Landschaften und deutsche Gemütszustände. An einer Rückenfigur, die an Friedrichs "Wanderer über dem Nebelmeer" erinnert und am Ufer des Scharmützelsees verharrt, fährt ein Ausflugsdampfer vorbei. Auf dem Schiff schwenken Dutzende Menschen Deutschlandfahnen. Rosefeldts Arbeit entstand kurz nach der WM 2006, die eine Diskussion um Patriotismus mit sich brachte. Nach zehn Jahren, während einer Fußball-Europameisterschaft, wird über die deutsche Flagge erneut gestritten. Das nennt man gutes Timing: "Ship of Fools" ist ein unverzichtbares Werk in der Ausstellung "Wahlverwandtschaften".