1995 in Wien, es ist Herbst. Im Keller des Wohnhauses, in dem die Fotografin Cora Pongracz (1943-2003) gelebt hatte, bevor sie in eine jüdische Wohn- und Pflegeeinrichtung zog, liegen offene Schachteln. Darin stapeln sich Negative und Abzüge. Der Fotohof Salzburg birgt die ungeschützt gelagerten Arbeiten und richtet noch im Folgejahr die erste Retrospektive zu Pongracz' Werk aus. Einzel- und Gruppenausstellungen folgen, insbesondere nachdem im Jahr 2015 die Wiener Fotosammlung OstLicht den Nachlass übernommen hat.
Cora Pongracz, die in Buenos Aires geboren wurde, nahm nach der Rückkehr ihrer vor dem Faschismus ins argentinische Exil geflohenen Familie ihre fotografische Ausbildung in Deutschland auf. Sie besuchte Anfang der 1960er-Jahre die private Schule von Marta Hoepffner in Hofheim am Taunus nahe Frankfurt am Main sowie die Bayerische Staatslehranstalt für Photographie in München. Während Pongracz schon in Frankfurt sowie auf Reisen zahlreiche Porträts für Zeitungen und Zeitschriften aufgenommen hatte, entwickelte sie vor allem in den 1970er-Jahren im Umfeld der Wiener Avantgarde ihr konzeptuelles Œuvre als Autorenfotografin.
Eine Ausstellung im Kunstverein für Mecklenburg und Vorpommern in Schwerin zeigt nun Cora Pongracz' 1974 entstandene Reihe "8 erweiterte Portraits". Hierfür hat die Künstlerin Protagonistinnen aus ihrem Wiener Lebens- und Arbeitsumfeld eingefangen. Die Serien bestehen jeweils aus sieben Fotografien. Jedes Konvolut folgt einem künstlerischen Konzept: Zwei Bilder zeigen Ansichten einer Frau in ihrer Wohnung in Wien. In den fünf weiteren Bildern einer Reihe finden sich Elemente, die sich die Porträtierte jeweils gewünscht hat und die als assoziierte Motive ihr erweitertes Lebensumfeld spiegeln: urbane Räume, Naturlandschaften, nahestehende Menschen oder liebgewonnene Objekte.
Die Namen bleiben ungenannt
Cora Pongracz' Idee für die insgesamt 56-teilige Serie umfasst ferner, dass alle Abzüge, egal ob Hoch- oder Querformat, stets quadratisch auf Karton aufgezogen präsentiert werden. Trotz der Nähe, die manche der Fotos ausstrahlen, bleiben die Namen der dargestellten Personen ungenannt. Die Bilder zielen auf die Darstellung eines Beziehungsgefüges, in dem sich Identität wandelt.
"Meine Bemühung, den Menschen ihr Bild vor Augen zu führen, will ich verstanden wissen", schreibt die Künstlerin 1972 in einer feministischen Publikation der Lyrikerin Heidi Pataki. In den "8 erweiterten Portraits" entwickelt sie diesen Gedanken weiter, betrachtet die fluide Verortung von Frauen innerhalb alltäglicher Konstellationen als Teil von gesellschaftlichen und politischen Strukturen.
Der Schweriner Kunstverein präsentiert die Werke auf individuell gebauten Modulen, welche auf die Bildräume der Fotografien reagieren und über die sich außerdem Bezüge zum Ausstellungsraum herstellen lassen. So werden Aufnahmen, die einen Schreibtisch mit Lampe, Vase und Teekessel zeigen, liegend präsentiert, während ein Halbakt einer Frau auf Augenhöhe hängt und zwei Ansichten von Häuserfassaden in Korrespondenz mit einem Sprossenfenster des Kunstvereins zu sehen sind.
Wiener Geflechte
Eine andere Reihe zeigt die Porträtierte in einer transparenten Bluse im Brustbild, lässt den Blick dann über ein Jugendstil-Grabdenkmal wandern und endet mit der Aufnahme vom Wachsmodell einer Zangengeburt – visuell gefolgt von einer Stahltür des ehemaligen E-Werks, in dem der Kunstverein verortet ist. Kuratorische Setzungen wie diese sind bedacht und geben Pongracz' Erzählräumen eigene Nischen, sich zu entfalten, ja in sie einzutauchen.
Jede Koje steht für sich und öffnet zugleich Aspekte, die die folgende Sequenz berühren. Von der Eingangstür aus ist nur ein einziges Foto sichtbar: das von Cora Pongracz selbst, das als Teil einer der acht Reihen entstanden ist. In der Bibliothek des Kunstvereins differenziert sich dann ihr Netzwerk aus: Durch diverse Publikationen gibt Kuratorin Hendrike Nagel dort Hinweise, welche Frauen – allesamt Akteurinnen der Wiener Kunstszene – für die Künstlerin von persönlicher Bedeutung waren, so etwa die Tänzerin und Feldenkrais-Lehrerin Christiane Dertnig.
Cora Pongracz' "8 erweiterte Portraits" sind im Schweriner Kunstverein bis Januar 2026 zu sehen. Dabei wird die Ausstellung kapitelartig in einen Dialog mit weiteren fotografischen Positionen treten: So ergänzen nacheinander Arbeiten von Seiichi Furuya (21. September bis 26. Oktober), Marietta Mavrokordatou (2. bis 30. November) und Paul Niedermayer (7. Dezember bis 11. Januar 2026) diese unmittelbare, berührende Schau.