Die Ästhetik des Coronavirus

Ist hier jemand?

Leere Städte, leere Supermärkte: Der neue Coronavirus lässt sich nur durch das darstellen, was nicht da ist. Dabei zeigt die Epidemie, was die Kunst schon lange weiß: Sicherheit gibt es nur zum Preis von Isolation 

Während die Menschen aus Sorge vor dem global umherreisenden Coronavirus die Luft anhalten, scheint die Erde ein wenig aufzuatmen. Ein Nasa-Satellitenbild, das derzeit die Runde macht, zeigt den Rückgang der Luftverschmutzung in China, wo die meisten Menschen mit Covid-19 infiziert sind. Zur Eindämmung der Epidemie wurde die Industrieproduktion in den Ballungsräumen heruntergefahren, was den Ausstoß von Stickstoffoxid massiv reduziert hat. Aus schmutzigem Braun im Januar wird auf der Grafik ab Mitte Februar luftiges Himmelblau. Die Drosselung der menschlichen Aktivität, so lässt sich das Bild lesen, ist bei aller Gefahr für menschliches Leben auch eine planetarische Pause-Taste. Reduzierter Flugverkehr, weniger Ölverbrauch, weniger Business- und Kulturjetset. Was Klimaaktivistinnen vergeblich fordern, gelingt einem wenige Nanometer großen Organismus namens Sars-CoV-2 .   

Wenn der Coronavirus eine Ästhetik hat, dann ist es eine der Leere. Eine Abwesenheit von Emissionen und Produktivität, von öffentlichem Leben und ganz physisch von menschlichen Körpern. Vielleicht lässt sich Covid-19 überhaupt nur über das abbilden, was fehlt. Die Erkrankten zeigen  keine äußerlichen Anzeichen, die über Erkältungssymptome hinausgehen. Während Seuchenbilder in der Kunstgeschichte oft ein apokalyptisch-groteskes Getümmel von lebenden, toten und halbtoten gezeichneten Körpern zeigen, macht Corona alles vereinzelt, steril und abgeriegelt.

Lange wurden Epidemien in verschiedenen Religionen als Strafe eines Gottes empfunden, sodass die Darstellung der eines Jüngsten Gerichts ähnelt. Arnold Böcklin ließ in seinem Gemälde "Die Pest" von 1898 den Tod auf einem geflügelten Monster durch eine Stadt fegen, die mit Leichen gepflastert ist. Noch die Fotos aus der Zeit der Spanischen Grippe, die 1918 bis zu 50 Millionen Tote forderte, zeigen Massenlager und zusammengepferchte Patienten in Lazaretten. Weil die kriegführenden Nationen die Schwächung ihres Heers vor den Gegnern geheim halten wollten, bekämpfte man das Virus nicht gemeinsam, sondern sperrte seine infizierte Soldaten in Kasernen ein.

Militär-Notfallkrankenhaus während der Spanischen Grippe in Kansas, 1918 oder 1919
Foto: Wikimedia Commons, National Museum of Health and Medicine, Armed Forces Institute of Pathology, Washington

Militär-Notfallkrankenhaus während der Spanischen Grippe in Kansas, 1918 oder 1919

Der Coronavirus, über dessen Gefährlichkeit noch immer diskutiert wird, ist dagegen visuell ganz Quarantäne. Laborästhetik und Ganzkörperanzüge, die auch für die Atomkatastrophe adäquat aussehen. Leere Wahrzeichen in leeren Städten. Der Markusplatz in Venedig, auf dem man vor lauter Menschen sonst sogar Banksy übersieht, zieht nur noch vereinzelte Todesmutige an.

Die chinesische Metropole Wuhan, in der der Ursprung des Virus vermutet wird, gleicht seit Wochen einer Geisterstadt. Eindrucksvoll ist das im Film "The Long Night" zu sehen, den ein Produktionsteam um den Regisseur Lan Bo nach dem Shutdown Ende Januar aufgenommen hat. Breite leere Straßen, gesperrte Brücken, die Architektur einer City mit 11 Millionen Einwohnern als bloße Kulisse für ein paar versprengte Figuren am Hafen. Wer sich raustraut, trägt dicke Mäntel und Mundschutz. Menschliche Festungen. Die Szenen sehen bekannt aus. Auch in Hollywood-Seuchenblockbustern ("28 Days Later", "I Am Legend") streifen letzte übriggebliebene Menschen durch verlassene Zivilisation. Jemand muss da sein, um die Leere zu bezeugen.



Die Bilder aus Wuhan erinnern an die surrealistischen Stadtansichten des griechisch-italienischen Malers Giorgio De Chirico (1888 - 1978), die nur abstrahierte Spuren von menschlichem Leben enthalten. Für ihn waren die aufgeladenen, mit Schlagschatten gegliederten Plätze imaginäre Räume. Die Kulisse einer fiktiven Detektivgeschichte. Irgendetwas lauert in diesen leeren Städten, aber das Bedrohliche entsteht vor allem im Kopf der Betrachter.


Eine diffuse Angst äußert sich inzwischen auch in leeren Supermarktregalen. Diese Leere entsteht aus einem Überfluss - hamstern zu können bedeutet an sich schon einen Luxus. Das Künstlerinnenkollektiv Fort baute 2015 für ihre Installation "Leck" eine komplett ausgeräumte Schlecker-Filiale nach, in der endlos ein leeres Kassenband vor sich hinsurrte. So ganz ohne Warenangebot sind die weiß-blauen Strukturen überzeugende Minimal-Art, deuten aber auch auf den Niedergang des Schlecker-Konzerns und die Folgen für dessen Mitarbeiterinnen hin. Die nackten Regale in Coronavirus-Zeiten sind paradox: eine erzwungene Konsumpause, die aus einem verschreckten Kaufrausch von Einzelnen resultiert.   

Dass Covid-19 diese Ästhetik der Leere hervorbringt, zeigt auch, dass die Krankheit medizinisch hochgerüstete Wohlstandsgesellschaften trifft, für die Mangel und Kontrollverlust ein Schreckensszenario sind. Andere Epidemien, die vermeintlich "weit weg" auf den ärmeren Kontinenten grassieren (Ebola, Malaria, Cholera) rufen in der mitteleuropäischen Wahrnehmung keine so prägnanten Bilder hervor. 

Sicher sein macht Angst

Überhaupt lässt sich eine Epidemie nicht ohne die Angst vor Fremdem denken. In vielen Seuchenfilmen macht ein Virus Menschen zu blutrünstigen Zombies, die bekämpft werden müssen - ein extremer Ausdruck für das ultimativ Andere. Wie Susan Sontag in ihrem Essay "Illness As A Metaphor" von 1978 schreibt, ist Krankheit mit Schuldzuweisungen verbunden. Es wird nach Verantwortlichen gesucht und Vorurteile gedeihen in kränkelnden Gesellschaften mindestens so gut wie die Viren. Auch im Zusammenhang mit Covid-19 gab es bereits mehrere rassistische Vorfälle gegenüber asiatisch aussehenden Menschen.   

Bei aller Abschottung - persönlich und kollektiv - zeigt die Ausbreitung des Coronavirus jedoch auch, dass Menschen wohl oder übel global miteinander verbunden sind. Zentrum und Peripherie lösen sich auf. Sicherheit gibt es nur zum Preis von Isolation. Dass Einzelne ansteckend für viele sein können, das weiß die Kunst schon lange. Und bei aller berechtigten Sorge um die Gesundheit von Menschen ist diese Verbundenheit auch eine Voraussetzung für Kreativität. Bei der Documenta 14 hat die Künstlerin Banu Cennetoğlu einen goldglänzenden Schriftzug am Fridericianum in Kassel angebracht. Botschaft: "Being Safe Is Scary".