Film über Fotokünstler Daidō Moriyama

Die Stadt als Bühne

Ein Dokumentarfilm porträtiert die 83-jährige Straßenfotografie-Legende Daidō Moriyama bei den Vorbereitungen zur Neuauflage eines seines Bildband-Klassikers. Eine überfällige Hommage

"Ich mag es da, wo es nach Mensch stinkt", so formulierte Daidō Moriyama einst seine anarchistische Arbeitsphilosophie. Seit sechs Jahrzehnten durchstreift der Virtuose der Straßenfotografie Rotlichtviertel und zwielichtige Großstadtecken, auf der Suche nach den Randfiguren der Gesellschaft, die er in Schnappschüssen einfängt, einsame Gestalten im Vorortzug, Wanderschauspieler und Prostituierte in schummrigen Gassen, scheinbar wie im Vorbeigehen geknipst, überbelichtet und nicht selten grobkörnig verschwommen. Missglückte Aufnahmen gebe es nicht, so Moriyama. Sie seien in ihrer Authentizität gleichwertig mit jeder anderen Aufnahme, ob Fassaden im ungeordneten Nebeneinander, Filmplakate, Werbezeichen oder das Gesicht einer Geisha.

Die Doku des Japaners Gen Iwama hängt sich an seine Fersen, folgt ihm bei der Arbeit, inzwischen mit einer Digitalkamera, beobachtet ihn während der unzähligen Begegnungen, die sich hin und wieder als tauglich für ein Motiv herausstellen, ein Schulmädchen auf dem Nachhauseweg oder Angestellte an einem Straßenübergang in dem Stadtteil Shibuya. Statt auf ein chronologisches Nachzeichnen des Lebenswegs zu setzen, richtet Iwama den Fokus auf Moriyamas Selbstaussagen und die von ihm genannten Inspirationsquellen, wie etwa seinen ebenso radikalen Foto-Kollegen Takuma Nakahira oder den US-Beat-Autor Jack Kerouac, der ihn dazu inspirierte, Japan zu bereisen und Alltagsgegenstände wie Autoreifen kunstvoll zu verfremden.

Ein japanischer Dorian Gray

Einen großen Raum nimmt die Entstehungsgeschichte des lange vergriffenen Schwarz-Weiß-Bildbands "Japan: A Photo Theater" von 1968 ein, der die Stadt als Bühne oder Film-Set begriff. Die Verstädterung griff in Tokyo und auch in der Provinz um sich, Einkaufsstraßen wurden im rasenden Tempo gebaut und die Studenten rebellierten gegen die erstarrten Moralvorstellungen. Theaterdramaturg Shuji Terayama hatte gerade das Straßentheater wieder eingeführt und arbeitete mit Exzentrikern, Kleinwüchsigen oder Transvestiten. Moriyama lichtete sie im alltäglichen Leben ab, das so selbst zu einem Bühnenstück mutierte. Parallel beteiligte er sich auch noch an der Gründung der Magazine "Scandal" und "PROVOKE", einem Meilenstein der japanischen Fotografie.

Um dieses Schlüsseljahr herum dokumentiert Iwama die Vorbereitungen für eine Neuauflage zum fünfzigjährigen Jubiläum des Foto-Klassikers, angetrieben von einem Verleger und einem Grafiker, die Moriyama in spannende Gespräche über seine Denkprozesse und ungewöhnlichen Perspektiven verwickeln. 2019 zur Kunstmesse Paris Photo ist es dann so weit, der Ansturm zur Signierstunde ist enorm.

Es wurde Zeit für diese Hommage. Schon erstaunlich, wie der Reiz des drohenden Entschwindens das alte und neue Filmmaterial magisch auflädt. Andererseits wirkt der Revolutionär in seinen gepflegten 80ern mit dem pechschwarzen Haar und dem tänzelnden Schritt wie ein nie alternder japanischer Dorian Gray, der vielleicht in 50 Jahren das 100-jährige Jubiläum von "Japan: A Photo Theater" feiern könnte – nur straßentauglich sollte es schon sein.