Kurator Birnbaum über 9/11 und die Kunst

Terror und Spektakel

Rauchschwaden über New York City, 20 Jahre nach dem 11. September 2001
Foto: Patrick Sison, AP, dpa

Rauchschwaden über New York am 11. September 2001

Was kann die Kunst leisten angesichts politischer Katastrophen? Fünf Fragen zu 9/11 an den Kurator Daniel Birnbaum

HAT 9/11 DIE KUNST VERÄNDERT?
In den Jahren unmittelbar nach dem Angriff auf die Twin Towers war das europäische Interesse an amerikanischer Kunst recht gering. In der Kunstwelt beschäftigte man sich damals mit eher unerschlossenen Gegenden wie China, Indien oder dem Nahen Osten. Für unsere Ausstellung "Uncertain States of America" von 2006 fuhren Hans-Ulrich Obrist und ich durch die Vereinigten Staaten, um uns einen Überblick zu verschaffen. Sie war nicht ausdrücklich als Beitrag zur Diskussion über die Folgen von 9/11 konzipiert, aber so wurde sie weithin wahrgenommen. Einige der wichtigsten Künstler aus der Generation, die in dieser Zeit gerade heranwuchs – zum Beispiel Paul Chan, Trisha Donnelly, Wade Guyton, Miranda July –, wurden mit dieser Ausstellung zum ersten Mal in Europa wahrgenommen. Natürlich wäre es albern, alle diese Künstler auf ein gemeinsames politisches Anliegen zu reduzieren. Aber der 11. September hat fraglos den westlichen Alltag insgesamt verändert und natürlich auch die Kunst.


IST 9/11 FÜR DIE KÜNSTLER EHER ALS MEDIENEREIGNIS ODER ALS POLITISCHES EREIGNIS RELEVANT?
Ich werde mich hüten, hier zur Verwirrung beizutragen, die durch Stockhausen und andere in die Diskussion gebracht wurde, als es um den künstlerischen Wert der TV-Bilder ging, die den Einsturz des World Trade Centers, dieses Symbols des globalisierten Kapitalismus, zeigten. Nach einem Jahrzehnt der Lehre an einer Kunstakademie kann ich aber eines sagen: Ich habe wahnsinnig viel schlechte Kunst gesehen, die diese Bilder kannibalisierte. Und ich habe eine faszinierende Arbeit entdeckt, die beinahe trocken in ihrem Ansatz ist: Hans-Peter Feldmanns "9/12", die einen ganzen Raum mit den Aufmacherseiten von Tageszeitungen des 12. September 2001 füllt. Die Layout-Entscheidungen der Zeitungsredaktionen – überregionale wie regionale – als einzige Klammer erweisen sich als so stark, dass daraus eine gleichermaßen bildlich wie intellektuell eindrucksvolle Arbeit entsteht. Ich sollte wohl auch noch Paul Chans "7 Lights"-Serie  erwähnen, die man sicher als indirekten visuellen Kommentar zu 9/11 verstehen kann, obwohl sie sich ja auch mit dem Jüngsten Gericht und apokalytischer Politik im Namen Gottes beschäftigt. Chans Schattenprojektionen von Objekten, Tieren und Menschen, die himmelwärts fallen, bleibt für mich eines der nachdrücklichsten Werke aus den "Uncertain States of America".


WIE POLITISCH KANN KUNST SEIN, OHNE IHREN KUNSTCHARAKTER AUFZUGEBEN?
Wir kennen ja alle Langweilerkunst, die sich für politisch wichtig hält, aber eigentlich nur redundant ist. Wie oft habe ich mir gedacht, dass guter Journalismus so etwas viel besser machen kann als viele der sogenannten politischen Kunstprojekte. Ich würde die Frage umkehren: Kann Kunst politisch sein, ohne einfach nur politische Slogans visuell umzusetzen? Ich erinnere mich an eine Diskussion mit Jean-Marie Straub im schwedischen Filminstitut, in der er behauptete, dass seine subtile, mit Danièle Huillet verfilmte "Chronik der Anna Magdalena Bach" – ein Film ohne jede offensichtliche politische Dimension – ihr Beitrag zum Kampf des vietnamesischen Volkes gegen den US-Imperialismus gewesen sei. Aus dem Publikum fragte jemand, ob er das erklären könne, ohne sich auf komplizierte Adorno-Theorien zu beziehen. Straub antwortete, dass jeder künstlerische Versuch, die menschliche Fantasie in ihrer ganzen Größe zu zeigen, sich gegen totalitäre Unterdrückung und die Macht des Imperialismus auflehne.


WIE KURATIERT MAN EINE AUSSTELLUNG ZU DEN FOLGEN VON 9/11?
Das weiß ich wirklich nicht. Aber ich glaube, dass es in jeder Ausstellung, die etwas über unsere heutige Welt sagen will, auch um die Folgen von 9/11 geht. Zudem scheinen Kunstwerke auf recht interessante Weise ihre Bedeutung zu verändern. Das fiel mir auf, als Francesco Bonami und ich Richard Prince’ "Cowboy"-Reihe 2003 auf der Biennale von Venedig ausstellten. Zuerst erschienen diese Marlboro- Männer als clevere dekonstruktive Arbeit über mediale Simulacra und das Verschwinden des stabilen Subjektbegriffs, aber dann schwang irgendwie eine neue Art von Heldentum mit und ein Bild von Amerika als letzter Supermacht. Die kalte postmoderne Ironie verblasste, und die "Cowboys" erstanden als großes Epos über die USA unter George W. Bush.


SOLL KUNST ÜBERHAUPT AUF AKTUELLE POLITISCHE EREIGNISSE BEZUG NEHMEN?
Eigentlich glaube ich nicht an eine prophetische Gabe der Kunst, aber kürzlich stieß ich auf Gabriel Orozcos kleine Arbeit "Island within an Island", eine Fotografie, auf der man im Vordergrund die Skyline des unteren Manhattan als Skulptur aus Bauschutt sieht, während sich im Hintergrund das echte Manhattan erhebt. Daraus ragt das World Trade Center mächtig heraus, was dem Stück eine seltsame prophetische Ahnung mitgibt. Es wirkt ganz bescheiden und unspektakulär, aber es scheint den Zusammenbruch des spektakulären Kapitalismus vorwegzunehmen und die Katastrophen, die entstehen, wenn seinen terroristischen Feinden die Macht des Medienspektakels klar wird. Wenn ich genau darüber nachdenke, ist das vermutlich die beste Arbeit über 9/11, die ich kenne. Interessanterweise entstand sie schon 1993.