XVI. Rohkunstbau

Das bessere Neverland

Der Mythos von Atlantis kann Sinnbild für alles Mögliche werden: für ziellose Sehnsucht, Klimawandel, Erkenntnistheorie, Zivilisationsmüdigkeit, für den Übermut der Politik und die Unergründlichkeit der Seele. Nicht zuletzt kann die versunkene Insel als Metapher auf das „Niemandsland“ (Adorno) der Kunst selbst stehen. Sich vom Bildlosen ein Bild machen, das Unwahrscheinliche wahrscheinlicher zu machen: Sollte es nicht der Avantgarde genau darum gehen?
 
„Atlantis I. Hidden Histories – New Identities“ heißt die 16. Gruppenschau der Veranstaltungsreihe „Rohkunstbau“. Das Atlantis-Motiv markiert einen neuen Start. Es gibt dem Kurator Mark Gisbourne bei der Auswahl der Arbeiten eine Freiheit, die in den vergangenen Jahre fehlte. Der Brite hatte die Ausstellungen mit dem Bezug zur Drei-Farben-Trilogie des Regisseurs Krysztof Kieslowski etwas überfrachtet: Die Werke mussten formal der Farbe nach und inhaltlich dem Thema nach passen. Dass das Projekt als Trilogie auf drei Jahre angelegt war, verstärkte den Eindruck, dass die Künstler so etwas wie einen Schulaufsatz anfertigen mussten.
 
Nun also ein neuer Anfang – an einem neuen Ort. Zwei Jahre lang hat der künstlerische Leiter Arvid Boellert ein passendes Schloss gesucht, nachdem „Rohkunstbau“ nicht mehr im brandenburgische Groß Leuthen stattfinden durfte, wo das freie Projekt lange Zeit zu Hause war. Mit dem Schloss Marquardt etwas außerhalb von Potsdam hat der engagierte Boellert nun ein dem Thema gemäßen Ort gefunden: Wie aus der Zeit gefallen wirkt das Gebäude mit dem abblätternden Putz, einem holzgetäfelten Foyer und dem weitläufigen Schlossgarten. Wenn Fahrradfahrer vorbeikommen, sagen sie: „Ganz hübsch, muss aber mal saniert werden.“ Es sei denn, es sind echte Romantiker.
 
In der Romantik war das unerreichbare Atlantis natürlich ein Thema, etwa bei Novalis oder Hoffmann. Doch gegen den oder mit dem „Zauber“ des Schlosses zu arbeiten, ist die Herausforderung für die Künstler in Marquardt. Thomas Scheibitz etwa stellt in dem Raum mit der stärksten Wirkung, der dunklen Eingangshalle, eine meterhohe Skulptur, die sich gegen die muffige Umgebung behauptet. Diese „Doppelsäule“ steht auf einem Podest und trägt ein Podest. Unmögliche, sinnlose Architektur, die in ihrer Schnörkellosigkeit dennoch sachlich und funktional wirkt.
 
Nicht nur in der Geometrie der zwei Skulpturen und dem großformatigen Bild von Scheibitz lauern Referenzen auf modernes Ingenieursdenken. Deimantas Narkevicius’ Film „Revisiting Solaris“ denkt die Technikskepsis von Stanislaw Lem und Andrej Tarkowski weiter, Dennis Feddersen überträgt in einer Installation die Welten eines Computerspiels in den Raum, Sabine Hornig und Gregor Hildebrandt reflektieren über „untergegangene“ Ton- und Bildträger wie Audiokassette, Schallplatte und Röhrenmonitore.
 
Während diese Künstlerinnen und Künstler solch eine Ruinenromantik ganz eigener Art betreiben, überziehen Lisa Junghanß, Robert Barta, Katarzyna Kozyra und Sejla Kameric das Märchenhafte des Schlosses ins Absurde. In ihren Filmen, Fotos und Installationen wird sich verirrt und bleibt man im Geheimnis und in der Fremde gefangen. Barta reduziert das Assoziationsangebot, dass der Mythos Atlantis bereithält, auf eine simple Geste: In einem runtergekommenen Waschraum des Schlosses klopft und ruft es hinter einer dicken Tür. Atlantis ist auch Gefängnis. 

12. Juli bis 13. September 2009; Eröffnung am 11. Juli ab 16.30 Uhr