Band zum Jahr 1990

Das Ende der Welt, wie wir sie kannten

Der Band "Das Jahr 1990 freilegen" erzählt von einer rasend interessanten Zeit, in der die Verhältnisse umgepflügt wurden. Gerade im jetzigen Ausnahmezustand ist dieser Blick auf den Zusammenbruch der DDR vor 30 Jahren erhellend

Zunächst ein Geständnis: Am Beginn des Jahres 1990 unternahm ich eine der peinlichsten Aktionen meines Lebens, nämlich Wahlkampf für die CDU. Ich war selbst noch zu jung, um bei der ersten freien Volkskammerwahl im März meine Stimme abzugeben, aber sah in der Union und ihrem unbedingten Willen zur deutschen Einheit den schnel­lsten Weg zur Selbstverwirklichung, die ich mir durch den Zugang zu Streetwear, Rap-Platten und Reisen vorstellte. Also verteilte ich CDU-Flyer mit der Aufschrift "Keine sozialistischen Experimente!" und murmelte dabei: "… stattdessen Westgeld und Reisefreiheit, ich bin schon 14 und habe keine Zeit zu verlieren!"

Viele Leute in der DDR hatte nach dem rauschhaften Herbst 1989 eine ähnlich verpeilte Ungeduld erfasst, das zeigt das Mammutbuch "Das Jahr 1990 freilegen", das von dem Spector-Books-Verleger Jan Wenzel editiert und veröffentlicht wurde. Es versammelt Texte und Bilder aus der Zeit, ergänzt mit 32 Geschichten des Schriftstellers Alexander Kluge und wunderbaren Straßenfotografien, unter anderem von Harald Hauswald, Ute Mahler, Einar Schleef, Michael Schmidt und Gundula Schulze Eldowy. Der Reader nimmt die Ereignisse in der sich auflösenden DDR als Mittelpunkt und Exempel weltgeschichtlicher Turbulenzen, die vom Zerfall der Sowjetunion bis zum Ende der Apartheid in Südafrika reichen.

"Warum noch Bücher schreiben?", fragt Wenzel zu Recht, denn "alles ist da". Er nennt sein Collageprinzip etwas wichtigtuerisch "performatives Lesen", dabei ist es lange erprobt, etwa in Walter Kempowskis "kollektivem Tagebuch" oder Rainald Goetz’ "Zeitmitschrift" von 1989. Jan Wenzel ist hier allerdings mit seinem Buch ein großer Wurf geglückt, und völlig verdient war es für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert. Der Band zeigt nicht nur, was war, sondern was hätte werden können. Er legt tatsächlich nicht nur das frei, woran wir uns ohnehin erinnern, sondern auch die damals übersehenen Signale, die später eine große Wirkung entfalteten, etwa der Beschluss zur Einführung des Mobilfunknetzes oder die Entwicklung des World Wide Web.

Das Jahr vor den "Baseballschlägerjahren"

Großartig auch, wie hier Abschriften von Reden der Staatsoberhäupter oder von zähen Verhandlungen des Runden Tisches neben der "Volkesstimme" stehen und beide, offizielle und informelle Rede, geprägt sind von ähnlichen Unsicherheiten und Emotionen, von Wagemut und Zaudern.

Und was hier ausgegraben wird! Am interessantesten der heute vergessene und offenbar  unauffindbare Schriftsteller Martin Gross, der Anfang 1990 aus Baden-Württemberg in die DDR zieht, um das letzte Jahr eines Staates zu dokumentieren. Er schaut in leere Gesichter und erkennt bei den ratlosen Ost-Revoluzzern den irren Kontrast zwischen innerer Unruhe und Schockstarre: "Und falls dies überhaupt eine Revolution war, im Oktober, dann hat wohl keine andere je so viel Kleinmut ausgelöst, so viel Minderwertigkeitsgefühl. Hier gibt es keine Euphorie, weil man es 'denen' mal gezeigt hat, hier gibt es nichts als die Offenbarung eines allgemeinen, gründlichen Versagens." Wer mehr über den ewig unbekannten Ossi der Gegenwart wissen will, sollte vielleicht ins Jahr 1990 schauen statt auf das Jubeljahr davor.

Die CDU hat die Volkskammerwahl am 18. März 1990 dann gewonnen, damit war der Weg zur Währungsunion im Sommer und zur Wiedervereinigung im Herbst frei. Für mich begannen wenig später die "Baseballschlägerjahre", in denen ostdeutsche rechts­­extre­­me Jugendliche mit Straßenterror auf sich selbst verwirklichende Jugendliche wie mich Migrationsdruck erzeugten. Auch diese bittere Zukunft ist 1990 angelegt und wird in diesem Buch beschrieben; sie drängt spätestens zwei Jahre später mit den Ereignissen in Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda mit voller Gewalt an die Oberfläche.