77 ist doch kein Alter, findet Tereza (Denise Weinberg), die in einer Kleinstadt am Amazonas lebt und in der Krokodilfleischindustrie arbeitet. Ein Job, ein Dach über dem Kopf, die Brasilianerin scheint zufrieden mit ihrem Leben zu sein, obschon es noch unerfüllte Wünsche gibt. Am Beginn von Gabriel Mascaros Tragikomödie "O último azul" (Das tiefste Blau) sieht man Tereza selbstvergessen in einer nebligen Fabrikhalle tanzen.
Wie Flügel breitet sie dabei die Arme aus. Sie träumt davon, einmal im Leben in einem Flugzeug zu sitzen. Ob das noch klappt, steht in den Sternen, zumal Tereza das Alter erreicht hat, in dem die Regierung Seniorinnen wie sie in eine isoliert gelegene Greisenkolonie schickt. Vorher zeichnet man die Alten noch mit einer billig in Serie produzierten Verdienstmedaille aus.
"Warum kriege ich fürs Altwerden eine Plakette?", fragt Tereza skeptisch. Und, nein, sie braucht keine Windel, und einen Rollator hat sie auch nicht nötig. Als sie dann von heute auf morgen aus der Fabrik in den Ruhestand entlassen wird und in den Bus ins Seniorenparadies verfrachtet werden soll, nimmt die stolze alte Dame Reißaus. Wenigstens ihren Flugtraum will sie sich noch erfüllen. Das Leben hält sogar mehr Abenteuer für sie bereit, als sie zu träumen wagt.
Eine Dystopie der sehr nahen Zukunft
Auf der Berlinale von 2019 war Gabriel Mascaros "Divino Amor" in der Panorama-Sektion vorgestellt worden, der von evangelikalen Christen im Jahr 2027 erzählte. Auch "Das tiefste Blau" – einer der Bärengewinner des 2025er-Festivals – spielt in einer nahen Zukunft. Der Gedanke, die für die Wirtschaftsleistung scheinbar irrelevanten Alten zu internieren, womöglich radikal zu entsorgen wie in Richard Fleischers Dystopie-Klassiker "Soylent Green", könnte schon heute reaktionären Kräften gut in den Kram passen.
Zu sehen bekommen wir die Kolonie, in die Tereza gesteckt werden soll, aber nie. Die Querköpfige stößt auf den Amazonas-Kapitän Cadu (Rodrigo Santoro), der sie gegen ordentliche Bezahlung auf seinem kleinen Flussdampfer mitfahren lässt (was ein wenig an John Hustons "African Queen" mit Humphrey Bogart und Katharine Hepburn als ungleiches Dampfboot-Gespann erinnert).
Während einer Zwangspause stößt das Paar auf eine Schnecke, die einen blauen Schleim produziert: Ins Auge geträufelt, lässt einen das magische Elixier in die Zukunft sehen. Tereza mag an eine große persönliche Verheißung nicht glauben – und überlässt Cadu das Experiment. Dessen Augen färben sich blau, seine Visionen zeigt uns der Film nicht (in diesem Fall: ein bad trip).
Das Wunderbare wird nur angedeutet
Wie mit der Dystopie verfährt Mascaro auch mit den fantastischen Elementen seines Films. Er walzt die magischen Ingredienzen nicht aus, obwohl das filmisch sogar sehr effektvoll sein könnte. Vielmehr deutet der Filmemacher Wunderbares nur an. Und wo sich betagte Figuren in anderen Filmen in farbigen Rückblenden in ihre Vergangenheit zurückträumen, blendet der Regisseur Terezas bisheriges Leben vollkommen aus. Diese ist denkbar optimistisch. Sie ist eine Frau mit Perspektive, gemäß der Devise der Autobiografie der Entertainerin Lotti Huber: "Diese Zitrone hat noch viel Saft".
"Das tiefste Blau" ist nämlich am Ende keineswegs ein nüchterner Film, was auch an Mascaros und Tibério Azuls von knappen und spritzigen Dialogen geprägtem Drehbuch liegt – und nicht zuletzt an der großen darstellerischen Bandbreite der Hauptdarstellerin. Weiß doch Denise Weinberg die innere Wandlung von der mürrischen "No Bullshit"-Seniorin zur risikofreudigen Abenteurerin hinreißend nachzuzeichnen.
Nach diversen Flusswindungen erlebt die Protagonistin dieses Road Movie auf dem Wasser sogar ihren zweiten Frühling – eine Romanze mit der gleichaltrigen Roberta (Miriam Socorrás), die auf ihrem Amazonas-Hausboot einen lukrativen Handel mit interaktiven Bibel-E-Books betreibt.
Tereza entdeckt die Träumerin in sich
Trotzdem kann sich Tereza nicht restlos sicher vor den Behörden wähnen, die sie ja in jene gefürchtete Altenkolonie verfrachten wollen. Zum Glück kommt eine Blauschnecke herangekrochen, und Tereza ahnt, dass sie einen Tropfen Schneckenschleim im Auge und einen Blick in ihre womöglich rosige Zukunft wagen sollte.
"O ùltimo azul" mischt ein wohltuendes Antidot gegen die allgemeine Mutlosigkeit unserer Zeit. Mascaros Film ist aber nicht nur sehenswert, sondern auch ein Hörgenuss dank der Musik von Memo Guerra, der Terezas Reise mit vitalen lateinamerikanischen Rhythmen begleitet. Kurzum: Der Film ist herrlichster Stoff zum Träumen – die Geschichte einer Frau am Rand der Verbitterung, die die Träumerin in sich wiederentdeckt.