Künstler David Claerbout

"Du darfst dich nicht in die Technologie verlieben"

David Claerbout gilt als Chronist der Zeit und Architekt des Sehens. Im Gespräch über seine neue Ausstellung in der Konschthal Esch erzählt der belgische Künstler, warum jedes Bild eine Lüge ist – und dennoch eine Wahrheit enthält

Zeit ist wie Wachs in seinen Händen. Seit vier Jahrzehnten bewegt sich der Belgier David Claerbout mit seinen Videoarbeiten und Installationen an der Schnittstelle von Fotografie und Film. Auf eigentümliche Weise mischt sich bei ihm Faktisches mit Synthetischem – Claerbouts virtuoses Spiel mit Wandel und Dauer hält immer wieder Überraschungen bereit.

Zum Zoom-Gespräch anlässlich der Überblicksausstellung "Five Hours, Fifty Days, Fifty Years“ in der luxemburgischen Konschthal Esch erreichen wir ihn in seinem Studio in Antwerpen. Der Künstler deutet auf ein Tablet, auf dem eine Zeichnung für seine nächste Videoarbeit "The Forest and the Wood" entsteht. Claerbout kündigt an, dass er während des Gesprächs vielleicht ein bisschen weiterarbeiten muss, weil er unter Zeitdruck steht. Aber dann spricht er doch ganz konzentriert über Zeitspannen und Bildtechnologien, über das menschliche Gehirn und KI – und einen gelassenen Holzschnitzer, der mit fatalen Konsequenzen die Welt um sich herum vergisst.

David Claerbout, kennen Sie die Kurzgeschichte des irischen Schriftstellers Bob Shaw "Light of Other Days"?

Nein, davon habe ich nie gehört.

Darin wird von einem "Slow Glass" erzählt, das man sich als Fenster einsetzen lassen kann. Das Licht braucht sehr lange, um das Glas zu durchdringen, sodass man in die Vergangenheit schaut. Das Verkaufsargument ist, dass man schöne Landschaften vors Fenster bekommt, in denen die Glasscheibe vor vielen Jahren aufgebaut war. Das Spiel mit Zeit in Shaws Science-Fiction-Geschichte erinnert mich sehr an Ihre Arbeiten.

Das kann sein. Ich schreibe mir den Titel der Geschichte einmal auf. Interessant.

In der fantastischen Literatur spielt Samuel Coleridges Formel der "Suspension of Disbelief" eine zentrale Rolle. Ihr Kern ist, dass die Skepsis der Leserschaft vorübergehend überwunden werden muss. Ist die Verführung des Publikums auch eine Kategorie für einen Künstler wie Sie?

Oh ja, das ist wichtig für mich. Ich bemühe mich sehr um die Aufhebung des Unglaubens. Gleichzeitig enthülle ich gerne die Mechanik hinter meinen Erzählungen. Das ist das Besondere an Kunst, das man erst in eine Fiktion hineingezogen wird und im nächsten Moment wieder hinausgeworfen.

Sie verstehen sich also nicht als Illusionist, der behauptet, wirklich zaubern zu können?

Nein, natürlich nicht. Meine Werke sind wie die Spiegelphase in der kindlichen Entwicklung. Wie das Kind zu begreifen lernt, dass es sich selbst im Spiegelbild sieht, so sollen Zuschauende realisieren, dass ich einen Vorschlag mache – und keine repräsentative Wahrheit zeige. In jedem Bild steckt die Absicht eines Autors.

Auch noch dann, wenn die KI das Ruder übernommen hat? Der Algorithmus entscheidet ja schon bei Handyfotos darüber, wie sie aussehen.

Ich finde es eigentlich erfreulich, dass KI Bilder generieren kann. Die Entwicklung muss uns nicht überraschen. Ich kenne das schon seit 20 Jahren, dass man etwa im New Yorker Hotel von einer "organischen" KI begrüßt wird, die sich wie ein Mensch zu benehmen scheint. Ich mochte das nie. Aber in den USA sind die Menschen an so etwas gewöhnt. Wir Europäer sind weniger darauf eingestellt – und werden gegen die KI auch eher Widerstand leisten.

Das Thema hat ja eine politische Dimension. Da ist KI wohl gefährlicher als auf der ästhetischen Ebene. Was denken Sie?

Die Menschen werden misstrauischer. Verschwörungstheorien greifen um sich. Es wird allgemein angezweifelt, dass Medien und Bildtechnologien überhaupt noch korrekte Informationen übermitteln können. Wir sehen ja zurzeit, wie einfach es ist, Lügen zu verbreiten, die auch geglaubt werden. Dabei ist es nicht schwer, eine Verschwörungstheorie zu durchschauen. Die Menschen müssen lernen, Botschaften auf ihren Wahrheitsgehalt hin zu analysieren.

Können Sie als Künstler diesen Lernprozess befördern? Ist das womöglich der Kern Ihrer Arbeit?

Ich denke schon. Ich sympathisiere sehr mit Paul Cézanne, der sich der Umbrüche seiner Zeit – industrielle Revolution und damit einhergehende tiefgreifende soziale, wirtschaftliche, kulturelle Veränderungen – sehr bewusst war, aber die Erinnerung daran, wie die Welt vorher aussah, wachhielt und abbildete. Das versuche ich auch: die Dinge auf Wesentliches reduzieren, zu einer gewissen organischen Realität immer wieder zurückfinden.

Wie geht das?

Etwa dadurch, dass man übt mit geschlossenen Augen zu visualisieren. Ich habe viel dazu recherchiert in den vergangenen Jahren. Heute begreife ich, wie wenig wir sehen und wie viel wir dazuerfinden.

Sie haben schon mit 12 viel gezeichnet und haben dann zunächst Malerei studiert. Haben Sie sich als junger Mensch Gedanken darüber gemacht, wie anfällig wir alle für Täuschungen sind?

Ich habe wohl damals nicht viel reflektiert über solche Fragen. Ich habe einfach "gemacht". Das Nachdenken über Wahrnehmung kam später. Philosophie ist ja eher etwas für alte Männer. Alles hat eben seine Zeit. Seit zehn, fünfzehn Jahren bin ich zunehmend neugierig geworden auf das Beziehungsnetz zwischen Informatik, organischer Wahrnehmung und extraokularer Sicht. Hochinteressant und auch brisant ist da der soziale Aspekt – und die Kernfrage: Siehst du, was ich sehe? Es wäre doch der Horror, wenn jeder Mensch nur noch eine individuelle Realität und Wahrheit vor Augen hätte. Ich glaube aber nicht, dass diese Zersplitterung, die sich fraglos gerade zeigt, immer weiter fortschreitet. Ich bin sehr optimistisch, was die Bindungskraft einer gemeinsamen visuellen Kultur angeht.

Arbeiten Sie mit Künstlicher Intelligenz? Und wenn ja, wie sieht das aus?

Ich bin von der Brüsseler Organisation Gluon mit Forschungsgeld unterstützt worden, das dabei half, KI in unseren Studio-Workflow zu integrieren. Inzwischen sind die meisten Projekte aber kläglich gescheitert, muss ich zugeben. Erstmals nutzen konnten wir KI bei der Gestaltung meines neuen Films "The Woodcarver and the Forest", der jetzt in der Kunsthalle Esch uraufgeführt wird.

Ich habe dazu einen kurzen Videoclip auf Instagram gesehen. Ein Mann, der Löffel schnitzt, in einem Atelier, durch dessen große Scheiben ein Wald zu sehen ist. Angesichts dieser Fensterfront kam mir wieder die Assoziation mit Bob Shaws Erzählung über das "Slow Glass" in den Sinn – ich habe fantasiert, dass der Wald, den man sieht, vielleicht schon nicht mehr da ist.

Der Wald ist gegenwärtig da. Aber er wird verschwinden. Der Holzschnitzer, einen Löffel nach dem anderen produzierend, ist derjenige, der das Holz verbraucht. Aber in seinem Raum gibt es nur Entschleunigung, eine meditative Stimmung, keine Dramatik, kein Dopamin.

Willkommen in der Kunstwelt! Wir sind ja schließlich nicht im Kino ...

So ist es. Mit der Idee zu dem Film haben wir die KI gefüttert. Ihre Bilder waren zuckersüß und sehr unglaubwürdig. Aber wir hatten dadurch eine Grundlage, unser eigenes Material zu drehen, mit einem Set und einem Schauspieler in der Rolle des Holzschnitzer.

Und hinter diesem Holzschnitzer, der jahrelang tiefenentspannt Löffel produziert, schwindet langsam der Wald?

Im Prinzip ja, aber es funktionierte in der filmischen Umsetzung nicht. So haben wir für die Zeit, in der der Woodcarver 13 Jahre älter ist, eine Serie von sieben Standbildern gemacht, die als Schwarz-Weiß-Fotos neben dem Videoscreen präsentiert werden können. Aber nicht in Esch, dort lassen wir die spätere Phase weg. Ich möchte die Fotos der späteren Phase nicht in der Nähe des Films zeigen, lieber in einem Museumscafé oder in einem Buch. Sonst, fürchte ich, könnte dieser Zeitsprung die Echtzeiterfahrung und den meditativen Charakter des Films stören.

Sie haben früher oft Situationen synthetisiert: "The Algiers’ Sections of a Happy Moment" von 2008 zeigte einen Augenblick auf einem Bolzplatz in Algier, zersplittert in so viele simultane Perspektiven, dass man sich fragt: Wer guckt hier eigentlich auf die Szene? In "Long Goodbye" (2007) schenkt eine Frau Kaffee ein, in Zeitlupe, während Schatten unnatürlich schnell über die Fassade hinter ihr rasen. Ich habe einmal in einer Review geschrieben: "Claerbout ist ein Dr. Frankenstein der Zeit". Ist Zeit ihr Material geblieben?

Ja, ich komme immer wieder zur Frage der Dauer zurück. Deshalb bin ich kein Fotograf. Ich muss mit Zeitspannen arbeiten. Und ich bin, wie Sie sagen, ein Experimentator. Ich muss immer alles zerlegen. Und ich habe immer gedacht: KI-Technologie kann zur Falle werden, in die ich nicht hineintappen darf. Meine Haltung zu neuen Technologien ist immer, dass man mit ihnen umgehen sollte, als wären sie schon alt und redundant. Verliebe dich nicht in eine Technologie! Halte Abstand! Das ist auch der Grund, warum ich immer auf die Mechanik des "Apparats" verweise, auch wenn Leute dann sagen, ihnen fehle die Geduld, meine Arbeiten anzuschauen. Das kann ich voll verstehen.

Verliebe dich nicht ins Werk von David Claerbout!

Exakt!

Sie sind ja auch Co-Kurator der Ausstellung im luxemburgischen Esch-sur-Alzette. Neben dem "Woodcarver" – welche älteren Werke waren Ihnen wichtig in einer Überblicksausstellung?

Die Idee kam von Ory Dessau, der die Ausstellung gemeinsam mit mir und Christian Moser, dem Direktor der Konschthal Esch kuratiert hat: Das Publikum soll sich ein wenig verlaufen auf den verschiedenen Stockwerken, die Zeit vergessen. Teile der verschiedenen Werke, darunter "Olympia (The real time disintegration into ruins of the Berlin Olympic stadium over the course of a thousand years)" von 2016 oder das "Bordeaux Piece" von 2004, sind über die Etagen verteilt, sodass unklar wird, auf welcher Ebene man sich befindet. Die Ausstellung ist ein Experiment, und ich bin mir völlig im Klaren darüber, dass dieses Experiment auch scheitern kann.

Das Werk, an dem Sie zurzeit arbeiten, trägt den Titel "The Forest and the Wood". Ich kenne kaum mehr als den Titel, von der Überschrift her könnte man vermuten, dass es in der Arbeit um eine Rückkehr zu den Wurzeln, vielleicht zur Malerei geht.

Naja, nicht ganz. Aber ich lese viel aus dem 19. Jahrhundert über Künstler und Technologien, um diese Zeit zu verstehen. Was ich zur Malerei sagen kann: Ich habe immer ein bisschen Angst davor, in die Bill-Viola-Ecke gestellt zu werden.

Das habe ich nicht gemeint.

Nein, ich weiß. Und einen gewissen Rückkehr-Aspekt hat "The Forest and the Wood", weil ich für die Arbeit "zurück" in das Tal gegangen bin, in dem Friedrich Nietzsche sieben Sommer verbrachte – im Dorf Sils-Maria im Engadin. Ich mag die Region nicht besonders, weil sie heute ein Rückzugsort für Superreiche geworden ist und auch die Kulturindustrie sich dort breit gemacht hat. Ich mag die Idee nicht, dass Mega-Galerien im Kunstbereich und im Gehirn der Leute ein Monopol aufgebaut haben. Weil es die Hollywoodisierung der Kunst darstellt. Und all das ging mir durch den Kopf, als ich im Oberengadin die Zeitrafferaufnahmen für "The Forest and the Wood" machte. Vier Tage habe ich bei verschiedenen Wetterbedingungen dort verbracht, um das aufzunehmen, und es war eine unglaubliche, aber auch langwierige Erfahrung.

Wurden Sie dabei beobachtet? Was haben Sie für Erfahrungen mit den Leuten vorort gemacht?

Die Leute im Dorf fragten, was ich filme. Ich sagte, dass ich das Licht aufnehme, die Veränderung des Lichts. Ich weiß ja nicht genau, was Licht ist, denn Licht ist wie die Zeit. Es hat keine Substanz, es ist kein Motiv für sich. Es zeigt sich in der Landschaft, in den Bäumen, die ich für "The Forest" gefilmt habe. Aber ich bin auch ein wenig wie der "Woodcarver" – der die Schönheit der Welt liebt und sie von innen zerstört.

Sie meinen, wir Menschen konsumieren mehr als wir bewahren können?

Ja, wir sind gespaltene, widersprüchliche Wesen. Deswegen ist auch mein Werk gespalten, ich suche permanent den Schnittpunkt zwischen einem natürlichen und einem künstlichen Bild. Deshalb haben wir Säugetiere übrigens zwei Augen, nicht etwa für das stereoskopische Sehen ...

... sondern für den Signal-Rausch-Abstand – mit zwei Augen sieht man vor allem im Dunkeln besser, weil man Netzhaut-Störungen vom Gesehenen unterscheiden kann.

Genau. Das eine Auge muss dem anderen permanent widersprechen. Ein Koordinationssystem wie das Gehirn muss widersprüchlich sein. Diesem Phänomen spüre ich nach. Wir sind sicher, eine einzige Persönlichkeit zu sein. Aber nein, das sind wir nicht. Wir balancieren ständig zwischen Gegensätzen. Und insofern versuche ich in dieser Welt der Visualisierung organische Realitäten aufzuzeigen. Das meine ich mit meiner Verbindung zu Paul Cézanne. Es gibt die Technik und es gibt das Organische. Das Bild bewegt sich dazwischen, das ist seine widersprüchliche Natur.

Das Bild ist widersprüchlich, weil der Mensch gespalten ist? Dann ist weniger von Dr. Frankenstein in David Claerbout als Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Stevensons schizoider Held ist die treffendere Beschreibung für uns Menschen?

Ja, das denke ich!