Interview mit Taryn Simon

Dem Schicksal auf der Spur

Taryn Simon, Sie haben in den vergangenen vier Jahren außergewöhnliche Familienschicksale auf der ganzen Welt dokumentiert, Ihre Ausstellung umfasst rund 1000 Personen. Udo Kittelmann, der Direktor der Neuen Nationalgalerie, stellt Sie in die Tradition von Edward Steichen und August Sanders.
Was Steichen angeht, sehe ich meine Arbeit eher als genaues Gegenteil. Seine „Family of Man“-Ausstellung war angelegt als universelles Porträt der Menschheit, während mein Projekt keine Schlussfolgerungen und keine Antworten liefert. Sander – zu dem schaue ich sicherlich mit großem Respekt.

Er typologisierte das „Anlitz der Zeit“ nach sozialen Kriterien – Sie folgen Blutlinien.
Ja. Ich verstehe meine Arbeit aber auch nicht allein als Fotografie. Sie besteht aus Schreiben, Grafikdesign, dem Layout der Ausstellung. Text ist ein enormer Anteil. Die blanke Fotografie kann bei mir, anders als bei Sander, nie ohne diesen Kontext gesehen werden.

Aber warum überhaupt ein altmodisches Konzept wie „Blutlinien“?
Weil es ein Ordnungssystem ist, auf das ich als Künstlerin zunächst einmal keinen Einfluss habe, und weil es dem Chaos entgegensteht. Ich bin um die Welt gereist, um Blutlinien zu finden und Geschichten, die mit ihnen zusammen hängen. Das Ganze ist eine Erkundung dessen, was wir Schicksal nennen. Die Frage, inwieweit Schicksal von Blut oder Zufall bestimmt ist – und welchen Einfluss Politik, Religion und das Soziale auf unser physiologisches und psychologisches Erbe nehmen.

Der Titel Ihrer Ausstellung bezieht sich auf drei Männer in Indien, die von ihrem Vater für offiziell tot erklärt wurden, weil er die Erblinie durchbrechen und sich den Besitz sichern wollte.
Das passiert häufig in der Region. Die Drei wollen seit Jahren beweisen, dass sie am Leben sind. Sie haben Briefe geschrieben, ihre Fingerabdrücke abgegeben, aber die Behörden sind geschmiert und reagieren nicht.

Wo finden sie solche Geschichten?

Der Großteil meiner Arbeit besteht aus Recherche und Schreiben. Ich muss mit den Menschen Kontakt aufnehmen, ihnen das Projekt erklären, meist brauche ich auch Dolmetscher, von bürokratischen Hürden ganz zu schweigen. Das Reisen und Fotografieren ist nur der letzte Schritt. Von einer solchen Geschichte wie die der für tot erklärten Männer las ich in einem Roman, und dann wollte ich einen echten Fall finden. So ist es meist: Ich habe erst die Idee, und dann suche ich die Entsprechung in der Realität.

Sie zeigen sich bekämpfende Clans in Brasilien, vom bosnischen Bürgerkrieg halb ausgelöschte Familien, oder die Nachkommen von Hitlers Rechtsberater und Generalgouverneur des besetzten Polen, Hans Frank. Doch egal wie empörend der Sachverhalt, Ihre Tafeln wirken stets wissenschaftlich-nüchtern. 
Es gibt keine Schnörkel, ich verweigere dem Betrachter bewusst jedes Ventil für Emotionalitäten, die im Zusammenhang mit dem Inhalt hochkommen. Meine Maschinen-Ästhetik spielt mit dem Gedanken, ob das Chaotische und Gewalttätige so geordnet sein könnte wie Blutlinien. Oder ob wir es uns zumindest als ebenso geordnet vorstellen können. Der Hintergrund meiner Aufnahmen ist immer neutral, egal wo die sie entstanden sind. Dadurch wird das Individuum herausgestellt und zugleich negiert: Es wird Teil der Masse, des unendlichen Zyklus von Geburt und Tod. Es geht letztlich um die Frage, ob sich diese Schicksale immer nur weiter stapeln oder ob es so etwas wie Entwicklung gibt.

Taryn Simon “A Living Man Declared Dead And Other Chapters, I – XVIII“, Neue Nationalgalerie Berlin, bis 1. Januar 2012