Architektur im Western

Der lange Treck nach Venedig

„The Western Town“ ist ein Buch, das über ein anscheinend nebensächliches Thema zentrale Fragen von heute erschließt. Seite um Seite wird eine andere Stadt oder Siedlung des amerikanischen Westens vorgestellt, wie Agry Town, 1863 an der Grenze von den USA und Mexiko gegründet, oder El Paso von 1865, Tonto, Rio Bravo ... Alle Orte sind systematisch aufgearbeitet, es gibt städtebauliche Diagramme, detaillierte Grundrisse, und auch die Möblierung der Erdgeschosszone wird behandelt – ist sie doch wesentlich für den urbanen Raum jeder Westernstadt.

Die Schwarz-Weiß-Zeichnungen greifen die Tradition klassischer Bauaufnahmen auf, Grundrisse und Schnitte sind in wenigen Strichstärken festgehalten. Keine störenden Schraffierungen oder Farbunterlegungen, wie man sie in ambitionierten Selbstdarstellungsbüchern findet, stören die Auseinandersetzung mit den Raumstrukturen. Neben den Zeichnungen gibt es historische Farbfotografien und Modellfotos, etwa von „Fort Grant’s most prominent civic structure“: ein Galgen, an dem sechs Menschen gleichzeitig gehängt werden können. Kurzum, das Architektenherz wird mit präziser Information erfreut.

Allerdings hat keine dieser Architekturen existiert, sie entstammen einer sehr speziellen Wirklichkeit: dem Western. Schon der Einleitungstext trägt deshalb den Titel „Spaghetti Urbanism“. Die historischen Fotos sind Filmstills, die Bauzeichnungen akribische Rekonstruktionen. Aber was heißt heute schon fiktional? Ist die Realität nicht ohnehin eine Erfindung – zumal in Amerika, der Heimat des Westernfilms? So entwirft der Band mit seinem vermeintlich wissenschaftlichen Blick in die Vergangenheit vor allem ein Bild der Gegenwart. Das Buch ist so herrlich beknackt, dass man es haben muss. Der Herausgeber, Alex Lehnerer, ist vor wenigen Wochen zum Generalkommissar für den deutschen Beitrag auf der nächsten Architekturbiennale in Venedig ernannt worden. Man darf schon jetzt hoffen, dass ihm dort ebenso zielsicher Abwegiges gelingt.

Alex Lehnerer (Hrsg.): „The Western Town. A Theory of Aggregation“. Auf Englisch. Hatje Cantz, 176 Seiten, 35 Euro