Abgesang auf die Plastiktüte

Der One-Night-Stand der Konsumkultur

Die Plastiktüte war mal der glänzende Fetisch der Schnäppchen-Republik. Inzwischen wird ihr weltweit der Kampf angesagt, seit Anfang des Jahres ist das Einwegmodell in Deutschland verboten. Ein Nachruf 

Es ist gar nicht so lange her, dass eine einfache Plastiktüte Poesie erschaffen konnte. Im Film "American Beauty" von 1999 sitzen zwei weltwunde Teenager gebannt vor einem Fernsehbildschirm, auf dem eine weiße Plastiktüte im Wind tanzt. 15 Minuten lang hat der empfindsame Eigenbrötler Ricky die Szene gefilmt, die er nun seiner Nachbarin Jane vorspielt. "Es gibt manchmal so viel Schönheit auf der Welt, dass ich sie kaum aushalten kann", sagt er mit bebender Stimme. "Und mein Herz droht dann daran zu zerbrechen." 

Gut 20 Jahre später lässt sich die Szene kaum anschauen, ohne dabei an vermüllte Meere, Mikroplastik und Einkaufstüten in Wal- und Schildkrötenmägen zu denken. Wenn hier Herzen zerbrechen, dann nicht, weil so viel Schönheit, sondern weil so viel Plastik auf der Welt herumfliegt.   

Es gibt kein Objekt der Alltagskultur (außer vielleicht dem konventionellen Strohhalm und der Glühbirne), das in jüngerer Vergangenheit einen so rasanten Imageverlust erlitten hat wie die Plastiktüte. Galten shoppende, mit Polyethylen-Taschen bepackte Menschen lange als Wohlstands-Wimmelbild, herrschte in vielen Supermärkten bis vor Kurzem blankes Entsetzen, wenn jemand ohne eigenen Jutebeutel doch mal nach einer "Plastiktüte groß" für 25 Cent verlangte. Seit dem 1. Januar 2022 sind Einmal-Plastiktüten in Deutschland ganz verboten. Künftig dürfen sogenannte "leichte Plastiktüten" mit Wandstärken von 15 bis 50 Mikrometern nicht mehr in Umlauf kommen. Die kleinen rascheligen Obsttütchen bleiben erlaubt, genauso wie festere Mehrwegtaschen à la Ikea. 

Aldi Nord hat bereits 2019 seine blau-weiß gestreifte Einwegtüte beerdigt, die 1970 vom Maler Günter Fruhtrunk entworfen wurde. Der Kultbeutel war gleichzeitig ein Zeugnis minimalen Designs und ein Stück deutsche Schnäppchen-Pop-Art, die Konsumkultur reflektiert, indem sie Konsumgut wurde. Vielleicht ist Fruhtrunks Balkenmuster, das an gegeneinander verschobene Barcodes erinnert, das westdeutscheste aller Bilder. Das perfekte Emblem für ein Land im Discounter-Rausch, das immer noch durch einen "Aldi-Äquator" in Nord und Süd geteilt ist.  

Heute Aldi Nord, morgen KaDeWe

Mit der Plastiktüte, der nun weltweit der Kampf angesagt wird, geht auch ein Stück Kulturgut verloren. Eine Wegwerf-Werbefläche, die seit ihrer Erfindung Mitte der 50er-Jahre omnipräsent ist und jeden Tag etwas anderes über ihre Träger erzählen kann. Heute bin ich Aldi Nord, morgen KaDeWe und Kulturkaufhaus - oder alles zusammen auf zwei Hände verteilt. Das Museum der Alltagskulturen im Schloss Waldenbuch bei Stuttgart stimmte 2019 mit der Ausstellung "Adieu, Plastiktüte" einen Abgesang auf die bedruckten Kunststofftaschen an. Zu sehen waren allerhand verschiedene Design-Strategien aus dem Zeitalter fossiler Rohstoffe, von minimalen Mustern über süße Maskottchen bis zu lasziven "Sex-Sells" Motiven mit Dekolleté und Erdbeere. 

Die Auswahl der Motive zeigte, wie sehr sich unser Blick auf den einst unverdächtigen Alltagsgegenstand verändert hat. Auf einer knallorangen Tüte wirbt die BASF stolz für ihre Kunststoffe, vom Unternehmen Tengelmann gibt es sogar ein Plastikmodell, das sich als Hilfe für die "Natur in Gefahr" vorstellt. Polyethylen wird darauf als praktisches, hygienisches und umweltfreundliches Material gepriesen, weil es rückstandslos verbrennt. Was es auch tut, wenn man CO2 nicht als Rückstand rechnet - und wenn es nicht vorher milliardenhaft in der Landschaft landen würde. 

Dass die Plastiktasche bei aller gesellschaftlicher und politischer Ächtung für Künstlerinnen und Künstler weiter interessant ist, will die Ausstellung "Die Letzte Tüte" zeigen, die eigentlich bereits im November im Berliner Gebrauchtwaren-Kaufhaus Noch Mall eröffnen sollte und nun auf Anfang März verschoben wurde. In der von den Künstlerinnen Christl Mudrak und Alex Müller organisierten Gruppenschau werden 32 Positionen zu sehen sein, die mit Kunst auf Kunststoff reagieren. 

Ein Jutebeutel ist eine Langzeitbeziehung

Auch andere Künstlerinnen und Künstler haben die Plastiktüte als Bedeutungsträger für sich entdeckt. So baut die Brasilianerin Jac Leirner Mosaike aus Museumsshop-Tüten, die eine gedankliche Reise durch die Kunstinstitutionen der Welt triggern. Auch Pascale Marthine Tayou aus Kamerun benutzt die Taschen als Ressource. Er baut daraus massive Skulpturen, die einerseits eine bunte Legoland-Ausstrahlung besitzen und gleichzeitig ganze Räume mit ihrer materiellen Macht erdrücken können. 

Dass der Plastikmüll unseren Planeten erstickt, dürfte inzwischen unstrittig sein. Aber darf man der Einwegtüte ästhetisch mit einer gewissen Nostalgie gedenken? Das kommt wahrscheinlich darauf an, wie viel Gefühl man für einen glossy Fetisch der Konsumkultur übrig hat und welche Erinnerungen man an persönliches Shopping-Glück besitzt. Die Papiertüte, die flächendeckend als Nachfolgerin der Plastiktragetasche verteilt wird, ist übrigens in ihrer robusten Kartonhaftigkeit nicht annähernd so sexy vermarktbar - und hat wegen des höheren Ressourcenverbrauchs bei der Herstellung ebenfalls keine besonders gute Ökobilanz. Der Jutebeutel, der in den 70er-Jahren noch als Hippiesack belächelt wurde, ist inzwischen das Accessoire der umweltbewussten Gegenwart geworden und aus keiner Kunstinstitution mehr wegzudenken. Allerdings muss auch eine Stofftasche 131 Mal benutzt werden, um nachhaltiger zu sein als ihre Plastikkollegin.

Einen Jutebeutel zu tragen ist eine bewusstere Entscheidung als bei einer Plastiktüte. Die Botschaften und Designs auf dem Stoff bleiben buchstäblich an ihren Trägerinnen und Trägern hängen. Der Jutebeutel ist eher Langzeitbeziehung als One-Night-Stand. Und so poetisch durch die Luft wie die Plastiktüte in "American Beauty" fliegt er auch nicht.