Dercon verlässt Volksbühne

Das Experiment ist vorbei

Foto: dpa
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Das Gebäude der Volksbühne in Berlin.

Chris Dercon hat als Volksbühnen-Intendant Fehler gemacht. Vor allem aber ist er Opfer einer beispiellosen Hasskampagne. Mit seinem Rücktritt fällt erneut der eiserne Vorhang zwischen Kunst und Theater. Ein Kommentar

Chris Dercon war nicht da bei der Premiere von Yael Bartanas Performance "What if women ruled the world" gestern Abend in seiner Volksbühne. Das Haus war voll, ein bunter Mix aus Theater- und Kunstpublikum – so hätte man sich das vorstellen können, wenn ein Stadttheater sich der Kunst öffnet. Doch das Experiment ist vorbei: Chris Dercon gibt auf. Der Kurator legt mit sofortiger Wirkung die Intendanz des Berliner Theaters nieder.

Ja, er hat Fehler gemacht. Er hat es unterschätzt, was es bedeutet, Castorfs Erbe anzutreten. Er hat sich nicht die richtigen Leute ins Haus geholt, die als Dramaturgen den Bereich des Sprechtheaters im Hause innovativ und qualitativ hochwertig organisieren können. Er hat auch im Umgang mit seinen Kritikern nicht immer geschickt agiert.

Aber vor allem ist er Opfer einer beispiellosen Hasskampagne geworden. Leute haben ihm Fäkalien vor die Tür gekippt. Sein Theater wurde besetzt. Die selbst ernannten Retter Castorfs spucken Gift und Galle auf der Facebook-Seite der Volksbühne, unter jedem Beitrag, an jedem Tag. Theaterkritiker wüteten mit Schaum vor dem Mund gegen jeden Schritt, lange bevor er überhaupt angefangen hatte. Schon bevor die Medien heute Morgen seinen Rücktritt meldeten, prangten Plakate rund um die Volksbühne, mit der hämischen Aufschrift: "Tschüss, Chris".

Aus der Perspektive der Kunst wirkte der Hass von Anfang an absurd. Wieso gebrauchen kulturaffine Menschen das Wort "Kurator" als Schimpfwort? In was für eine Wagenburg haben sich die Dercon-Hasser da eigentlich verschanzt?

Jetzt ist die Dercon-Schmähung zur self-fulfilling prophecy geworden. Gegen eine Theaterszene, die ihn boykottiert, gegen eine Bande von Trollen, die ihn fertig machen will, konnte keine kreative Arbeit gelingen und auch kein Programm. Von der Politik, die ihn nach Berlin geholt hatte, wurde Dercon nicht geschützt. Jetzt steht das Haus ohne Intendanten da und ohne Vision. Der eiserne Vorhang zwischen Kunst und Theater fällt wieder. Welch eine Tragik!

Am 1. April hatten wir vermeldet, dass Chris Dercon neuer künstlerischer Leiter der Documenta wird – als Aprilscherz. Viele Leute haben das auf den ersten Blick geglaubt. Warum? Weil man Dercon diesen schwierigen Job sofort zutraut. Dercon ist ein herausragender Kulturmanager und Kurator. Er wird diese Qualitäten an anderer Stelle sehr bald wieder einzusetzen wissen. Bis die Volksbühne sich von der Zerstörungsarbeit ihrer selbst ernannten Verteidiger erholt hat, wird es wahrscheinlich länger dauern.