Film nach Siegfried Lenz

Deutsch fällt aus

Unsere Autorin wollte gern glauben, dass im deutschen Kino ein Nazi-Kostümfilm auf der Höhe der Zeit möglich ist. Die Neuverfilmung von Siegfried Lenz' "Deutschstunde" ist aber alles andere als das. Über eine vielseitig verstörende Erfahrung 

Gutwillig war ich noch, zu glauben, in Deutschland könne jemand einen Nazikostümfilm drehen, der auf der Höhe der Zeit ist, selbst wenn ein Nachkriegsroman die Vorlage bildet, der manches von dem, was wir heute über die Naziherrschaft wissen, nicht wissen konnte oder wissen wollte.

Angeschaut habe ich mir diese insgesamt zweite Verfilmung der "Deutschstunde" nach Siegfried Lenz im Screening-Raum des Soho House Berlin, schön eingekuschelt in einen weichen, großen Sessel, mit unlimitiertem Zugang zum Kühlschrank und mit einer Thermoskanne Kaffee in Reichweite. Die Umstände waren also geradezu perfekt, bedauernswert dagegen diejenigen Kolleginnen und Kollegen, die nur einen Streaming-Link bekommen und zu Hause oder im Büro den Schinken (125 Minuten) zwischen Twitter-Ablenkung und Stehpult-Konferenz weggucken mussten.

Ich hatte soviel zutrauliche Neugier im inneren Gepäck dabei, dass ich mich noch wunderte über die Warnung eines Freundes, den ich auf dem Weg ins Soho House in der Tram traf: "Tust du dir das wirklich an?" Na klar, sagte ich. Meine Stiefoma war Lehrerin an einem Harburger Gymnasium in den Fächern Latein und Griechisch gewesen und hatte mir den Roman von Lenz einmal geschenkt. Bis zum Ende gelesen hatte ich das Buch dann zwar nicht, doch nun wollte ich wenigstens entdecken, was ich damals verpasst habe. Oder wie es im Lied so schön heißt:. Kommt ein Vogel geflogen, setzt sich nieder auf meinen Fuß, hat ne Romanadaption im Schnabel, von der verstorbenen Stiefoma einen Gruß.

Du alter Esel Nolde

Unverbesserliche Naivität. Was ich sah, war ein vor allem selbstbezüglicher Film, der große Kunst sein will und sich ganz auf die parabelhafte Anlage des Romans zurückzieht, um sich zusätzlich aus einer schattenhaft erinnerten, nie verstandenen nordischen Naturmystik heraus letzten Wind in die Segel blasen zu lassen. Um genau zu erklären, wieso der Film misslungen ist, stehen diverse Diskurse mit unterschiedlichem Sexappeal zur Verfügung. Der zentralste und gleichzeitig für meine Abneigung wohl irrelevanteste dreht sich um Lenz' 1968 erschienenen Roman und dessen Figuren-Vorbild, den Maler Emil Nolde.

Die Malerfigur in Lenz' Roman erscheint als Opfer der Nazis, die seine Kunst verbieten und zerstören. Die Frage, ob der echte Nolde ein überzeugter Antisemit und Nationalsozialist war, kann allerdings seit einigen Jahren durch ein abgeschlossenes Forschungs- und Ausstellungsprojekt eindeutig beantwortet werden: Ja, Nolde hat die Juden gehasst; und ja, er wusste auch, dass sie im Osten ermordet werden; und abermals ja, es hat ihn verbittert und verstört, von seinen geliebten Herrenmenschen als Künstler nicht anerkannt zu werden.

In die Kiste der "Entarteten Kunst" haben die Nazis ihn gesteckt. Du alter Esel Nolde, was musstest du auch so prachtvoll malen, ein paar blonde Nackedeis mit kräftiger Oberschenkelmuskulatur hätten doch gereicht und der Hitler hätte dich sonstwo in den Himmel gehängt. Nolde konnte aber malen, wilder als die Nazis erlaubten, und deshalb sind sein Werk und dessen Rezeptionsgeschichte von der geradezu ironischen Schräglage geprägt, das ein von den Nationalsozialisten verfemter Künstler gleichzeitig ein politisch überzeugter Antisemit und Hitler-Verehrer war und einen bedeutenden Beitrag zur Kunst der Moderne geliefert hat.

Jetzt schreibe ich eigentlich schon zu viel über Nolde. Aber Filmregisseur Christian Schwochow (bekannt durch die Serie "Bad Banks") und seine Mutter Heide Schwochow, die das Drehbuch schrieb, haben sich diesen Roman nun mal zur Adaption ausgesucht und ziehen sich bequem zurück auf das Nicht-wissen-wollen hinsichtlich des verlogenen Nolde-Mythos.

Endgame im Wattenmeer

Gemäß der Lenz'schen Vorlage wird in der Kulisse des Wattenmeeres im Jahr 1944 eine Art Endgame zweier sehr gegensätzlicher Figuren im untergehenden Dritten Reich inszeniert. Die Leser von 1968/69 hat tief beeindruckt, wie hier Gewalt in der Erziehung und der Alptraum der Sekundärtugenden ("die Freunde der Pflicht") herangezogen werden, um die Gewalterfahrung sowie die Gewaltbereitschaft der Vätergeneration zur Diskussion zu bringen.

Der Film zeigt die nordfriesische Landschaft von Menschenhand kaum berührt. Die dunklen, in den Windschutz der Deiche gebauten Reetdachhäuser drücken auch die Seelen der Männer und Frauen klein. Die Suppe wird in bedeutungsvollem Schweigen verzehrt, jedes liebe Wort ist längst erfroren und Haue ersetzt Liebe. In bräunlich-grün-orange ausgepegelten Bildern treten zwei Männer gegeneinander an, beide Nachbarn, vielleicht einstige Freunde, der Polizist Jepsen (Ulrich Noethen) und der Maler Nansen (Tobias Moretti). Plattdeutsch wird nicht gesprochen, eigentlich schade.

Der Polizist überbringt dem erfolgreichen Maler mitten im Watt, wo er so reizvoll steht und über seiner Leinwand sinnt, das offizielle "Malverbot". Der kleine Polizist wird es im folgenden Handlungsverlauf überwachen. Der Durchsetzung der Freiheitsbeschränkung opfert er das Glück seiner Familie, die Beziehung zu seinen Söhnen und den letzten Funken Menschlichkeit. "Deutscher Kleinmut tritt an gegen deutschen Edelmut und wird zur Karikatur", kritisierte der sensible Schriftsteller Peter Härtling diese ungenaue Grundkonstruktion des Romans schon 1968 im "Spiegel".

Die viel gefühlte, aber grundfalsche Annahme, dass Bildung, ein Verständnis für moderne Kunst und eine höhere gesellschaftliche Stellung im Grunde einen deutschen Mann bereits inkompatibel für die Nazikumpanei machten und es vor allem die Proletarier und Kleinbürger waren, die auf die braune Pest hereinfielen, wird hier wieder einmal aufgerufen.

Manipulative Naturmystik

Jetzt zu dem, was mich persönlich an diesem Film geradezu brennend stört, und das kann keine Gischt, kein Prasselregen, kein Sturm und kein Möwengekreisch, von dem der Film wirklich viel aufbietet, mildern. Es geht um die unreflektierte, geradezu manipulative, sich in Naivität ergehende Landschaftsinszenierung und Naturmystik, derer sich der Film bedient, und die im Schwarz-Weiß-Abspann ihren gestalterischen Höhepunkt sucht.

Im Abspann wird in einer Bildfolge mit nassem Schwarz und glühendem Weiß die Küstenlandschaft mit ihren ein- und auslaufenden Prielen gezeigt, Ebbe und Flut. Dabei werden Erinnerungen an eine ganz bestimmte ästhetische Tradition im deutschen Film wach: Ein bisschen Leni Riefenstahl, die die Nordsee wohl ähnlich gefilmt hätte, wäre sie am Anfang ihrer Karriere nicht mit dem Sportfilmpionier Arnold Fanck und dem Kraxelmeister Luis Trenker im Bergfilm gelandet. Dazu mischt sich ein bisschen Veit Harlan und die Erinnerung an seine schauspielernde Gattin Kristina Söderbaum, die man im Dritten Reich aufgrund ihres Figurenrepertoires auch die "Reichswasserleiche" nannte.

Diese Anleihen Schwochos beim deutschen Film der 1930er- und 40er-Jahre scheinen mir wohl kalkuliert. Film- und Kulturwissenschaftler wissen, dass sowohl Riefenstahl als auch Harlan (als auch Nolde) genau in diesem Spannungsfeld zwischen international anerkannter künstlerischer Originalität und Bedeutung als auch als politisch korrumpierte und moralisch total versagende Individuen einzuordnen sind. Sich hier mal frech bei deren Bildideen zu bedienen (80 Jahre später) soll wohl künstlerische Reife suggerieren?

Die Antwort heißt "Bäderantisemitismus"

Aber es ist noch gar nicht dieser müde Trick, der mich letztlich gegen den Film einnimmt, wenn auch zugegeben ein wenig verstört. Es ist das, was dem Film an Geschichte, an Respekt, an Erinnerungsarbeit fehlt. Da ist eine Leere in diesem Film, und er glaubt, sie mit Wind, Selbstzerfleischung und aus hohler deutscher Künstlerattitüde bestehenden Anmaßung füllen zu können. Sie führt zu einer Frage: Wieso gibt es hier so wenige Menschen? Wieso ist diese nordfriesische Landschaft seit mindestens den 1920er-Jahren geeignet, einen Naturmythos zu zelebrieren, bei dem Menschen in ihrer Vielfalt und Gesellschaftsleistung nur stören würden?

Für die Antwort auf diese Frage gibt es ein Wort, es heißt "Bäderantisemitismus". Es bezeichnet ein Phänomen, das auch über Deutschland hinaus galt: Jüdische Touristen waren in Badeorten nicht erwünscht. Schon früh im Nationalsozialismus erklärten sich die Bäder an Nord- und Ostsee "judenfrei". Es haben andere vorher viel Unrecht getan, damit ein deutscher Maler sich am Strand nur mit deutschen Möwen beschäftigen konnte.

Es gibt eine Szene in einem Film über das Leben von Anne Frank, da badet sie mit ihren Freundinnen in der Nordsee, und einige Hitlerjungen gehen hin und zerren sie gewaltsam aus dem Wasser. Ich weiß, dass es so gewesen ist. Es hat sich eingebrannt. Wieso nicht bei Mutter und Sohn Schwochow? Wieso können die das einfach ausklammern, ignorieren, verschweigen? Keine Landschaft entsteht nur durch Wind, jede Landschaft hat eine Geschichte. Dieser Film weiß nichts davon.

Der Schmerz wird nicht geteilt

Der "Zeit"-Redakteur Ulrich Greiner nahm 2017 zur Kenntnis, dass der deutsch-jüdische Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki den Roman von Lenz nicht mochte, und konnte sich nur einen schwachen Reim darauf machen, wenn er ihn auch lustig formulierte: "Dass die 'Deutschstunde' Reich-Ranicki nicht gefiel, kann man verstehen. Eine Geschichte, die hauptsächlich zwischen Deich und Watt spielt und deren erotischste Szene darin besteht, dass der halbwüchsige Siggi die Schnittwunde am nackten Fuß seiner älteren Schwester – sie ist am Strand auf eine Muschel getreten – mit dem Mund aussaugt, eine solche Geschichte konnte dem Erotikliebhaber und Landschaftshasser Reich-Ranicki keinesfalls behagen."

Eigentlich infam, einem Mann wie Reich-Ranicki einen grundsätzlichen Landschaftshass zu unterstellen, insbesondere deutschen Landschaftshass. Ich glaube, in diesem Beispiel wird vor allem deutlich, dass der Schmerz über die Verdrängung und Eliminierung einer Bevölkerungsgruppe aus einer Landschaft immer noch nicht grundsätzlich geteilt wird. Auch davon zeugt dieser Film.

In den 90er-Jahren, als ich mit meinem jüngeren Bruder nach Föhr gefahren bin, war er der einzige schwarzhaarige Junge unter hunderten blonden Kindern und fiel auf. Der Strand war immer noch so, wie die Antisemiten ihn geschaffen hatten, noch für Jahrzehnte hatten sie das Bild der Menschen in der Landschaft geprägt. Heute aber erobern sich die Migranten ihren Platz an den Badeorten zurück. Es gibt muslimische Familien, die in Travemünde jedes Wochenende ihre Freizeit genießen und mit ihren Freunden picknicken, und Migranten, die in den Seebädern und auf den friesischen Inseln ihre Lokale betreiben, deren Kinder hier groß werden und dazu gehören wollen. Lange hat es gedauert, die Leere wieder zu füllen, die der Bäderantisemitismus gerissen hat.