Kuratorin Diane Drubay über neue Medien

"Digitale Kunst ist eine körperliche Erfahrung"

Der Begriff "digitale Kunst" stiftet Verwirrung. Das kann aber eine Chance sein, meint Diane Drubay, denn so erwache das Bedürfnis nach Differenzierung. Wir haben mit der Kuratorin über die Möglichkeiten neuer Medien gesprochen

Die Kuratorin Diane Drubay widmet sich seit rund 20 Jahren der digitalen Kunst und arbeitet mit führenden internationalen Museen an Ausstellungen und Vermittlungsstrategien für ein Feld, das auch nach Jahrzehnten noch als "neu" und nicht als organischer Bestandteil der sogenannten "traditionellen" Kunstwelt gilt.

Zeitgleich zur vergangenen Art Basel im Juni kuratierte sie eine viertägige Konferenz im Rahmen der Digital Art Mile und gewann dafür international führende Namen der Szene. Überschneidung mit dem Geschehen auf der Kunstmesse nebenan gab es wenig, aber das ist für Drubay kein Beweis für mangelnde Relevanz. Sie beobachtet viel mehr ein wachsendes Bedürfnis nach Orientierung, als Hinweis darauf, dass die volle Potenzialentfaltung von digitaler Kunst erst noch bevorsteht. Wir haben mit Drubay über Definitionsversuche der Gattung und körperliche Wahrnehmung gesprochen. Und die Macht von digitaler Kunst, die Welt neu zu denken – und womöglich zu einem besseren Ort zu machen.


Diane Drubay, wie steht es um die digitale Kunst und ihre Beziehung zur sogenannten "traditionellen" Kunstwelt?

Als Kuratorin und Vermittlerin digitaler Kunst beobachte ich eine zunehmende Annäherung. Wobei der Begriff "digitale Kunst" ja alles Mögliche umfasst. Manche denken dabei an immersive Projektionen, andere an Computerkunst, wieder andere an Videospiele, NFTs oder generative Kunst. Tatsächlich kann die Vielfalt der möglichen Erscheinungsformen von digitaler Kunst für Außenstehende ziemlich verwirrend sein. Aber genau diese Verwirrung hat etwas Gutes, weil sie den Wunsch nach Orientierung weckt und der wiederum führt dazu, sich inhaltlich differenzierter auseinanderzusetzen. Das schafft eine Substanz, von der auch der Markt für digitale Kunst profitieren kann.

Aber wenn digitale Kunst für so unterschiedliche Ausformungen steht, warum betonen wir immer noch das "Digitale" in Abgrenzung zu anderer Kunst?

Weil "digitale Kunst" für Entwicklungen steht, die noch nicht eingeordnet sind. Klar, am Ende meint der Begriff genauso "nur" Kunst wie jede andere. Aber wir sehen ja am Beispiel der Fotografie, dass nicht jedes Medium so selbstverständlich unter dem Begriff "Kunst" einsortiert wird. Auch das Verständnis für Videokunst ist immer noch nicht genauso tief wie für andere Kunstformen. Die Kuratorin Elena Carbajal, sie ist Head of Arts der Onkaos Foundation, sagte jüngst auf einem Panel im Rahmen der Digital Art Mile, sie würde sich überhaupt nicht mehr auf spezifische Medien fokussieren, weil keine Kategorie für die Ewigkeit gemacht sei. Sie spricht nur noch von digital culture statt digital art.

Wobei "digitale Kultur" ja viel mehr umfasst als bildende Kunst. Macht das die Sache nicht nochmal schwammiger?

Nicht unbedingt. Für mich ist digitale Kultur tatsächlich ein prägender Aspekt der digitalen Kunst, deren Anfänge für mich in experimentellen Festivals für elektronische Musik und Multimedia-Kunst wie Sónar oder Mutek liegen. Für manche beginnt digitale Kunst mit dem Aufkommen des Heimcomputers, für andere mit dem Internet, für mich halt mit den Festivals. Orte, an denen digitale Kunst erstmals kollektiv in dafür gestalteten Räumen erfahrbar gemacht und gefeiert wurde, fast wie ein kollektives Ritual. Die im Laufe der Zeit rund um diese Kunst entstandene Kultur hat natürlich Überlappungen mit anderen digitalen Kulturfeldern von Internet bis Gaming, aus denen sie sich speist. Aber sie hat auch ihre eigene Sprache, ihre Codes und Referenzpunkte.

Wie tragen Entwicklungen wie der NFT- oder KI-Hype zur Verbreitung dieser Kultur bei?

Natürlich förderte der NFT-Hype die Sichtbarkeit von digitaler Kunst. Aber ich muss immer noch Menschen erklären, dass ein NFT ein Token für ein digitales Kunstwerk ist und keine Kunstform, wenn dieses Phänomen auch eine ganz eigene Ästhetik hervorgebracht und die digitale Kultur belebt hat. Aber dem Markt hat dieser Hype tatsächlich eher geschadet. Früher gab es zum Beispiel auf einer Messe wie der Art Basel durchaus einiges an digitalen Werken zu sehen. Doch der spekulative Aspekt und auch die massiven Forderungen nach Abschaffung von Gatekeepern und überhaupt einer Disruption des etablierten Systems im Zuge des Hypes haben eher dazu geführt, dass sich etablierte Galerien und der traditionelle Kunstmarkt wieder abgewendet haben.

Ihr Fokus als Kuratorin und Vermittlerin liegt eher auf Museen als Galerien. Wie stehen die zu digitaler Kunst?

Viele Museen haben mittlerweile Ankaufs-Kommissionen speziell für digitale Kunst, darunter so bekannte wie das LACMA in Los Angeles, das Centre Pompidou in Paris oder das Whitney Museum in New York, dessen Kuratorin Christiane Paul zu den bedeutendsten Förderinnen dieser Kunst zählt. In diesen Kommissionen sitzen auch Sammlerinnen und Sammler, die erst mit dem NFT-Boom auf den Plan getreten sind. Das ist insofern interessant, als der Boom geholfen hat, ernsthafte Sammlerinnen und Sammler herauszubilden, die wertvollen Input für den Aufbau von Museumssammlungen liefern.

Braucht es zur Vermittlung dieser Kunst auch der digitalen Kultur entspringende neue Formate und Tools?

Die Blockchain-Technologie hat zwar Web3-Versprechen wie das auf demokratische Teilhabe befördert, tatsächlich aber begegnet mir die Frage nach Einbindung des Publikums und partizipatorischer Kunsterfahrung im Museumskontext schon seit Anbeginn meiner Arbeit vor rund 15 Jahren. Natürlich ist für eine zeitgemäße Vermittlungsarbeit Digitalisierung wichtig, aber was neue Besucherströme bringt, ist am Ende nicht ein schicker neuer Chatbot oder eine von ChatGPT kuratierte Ausstellung. 

Sondern?

Die Kunst selbst. Kunst, die vielleicht nicht intellektuell ist, die aber wie zum Beispiel im Fall von Refik Anadol im MoMA letztes Jahr Besucherrekorde bricht. Kunst, die eine sinnliche und emotionale Ansprache schafft, in Erstaunen versetzen kann, unmittelbar empathisch und dadurch transformierend wirkt. Man mag es nicht glauben, aber ich sehe es immer wieder an den Reaktionen auch auf meine Ausstellungen: Digitale Kunst berührt. Die LAS Art Foundation in Berlin ist ein gutes Beispiel dafür, wie man digitale und technologiebasierte Kunst vermitteln kann, oft in räumlichen Settings, die als shared space zu verstehen sind: als Resonanzraum für kollektive Kunsterfahrung, wie ich sie zuerst bei den oben erwähnten Festivals gemacht habe.


Was ist kuratorisch anders bei digitaler Kunst?

Das Tolle an digitaler Kunst ist, dass man sie sowohl online als auch auf Screens im Raum oder in immersiven Rauminstallationen zeigen kann. Und immer hat man es mit einer physischen Erfahrung zu tun. Ich stelle oft fest, wie körperlich die Betrachtenden auf die Kunst reagieren. Das hat auch etwas mit Raum zu tun, selbst wenn der rein virtuell ist. Für meine Online-Ausstellungen nutze ich zum Beispiel die vom Künstler Constant Dullart entwickelte Plattform Common Garden, da ist der Ausstellungsraum nach allen Seiten hin offen und potenziell unendlich, was manche Besuchende als Erfahrungsraum sehr schätzen. Man kann sich da aber auch verlieren, und ich gebe zu, dass man dafür schon eine gewisse Digitalkompetenz braucht. 

Was kann man mit der anfangen?

Dieses Element der Unendlichkeit kann man dann aushebeln, und gerade bei potenziell unendlichen Phänomenen wirkt die Begrenzung von Zeit und Raum umso stärker. Zum Beispiel habe ich einmal in einem Raum mit zehn großen Bildschirmen an den Wänden jeweils nur ein Werk pro Screen gezeigt. Man wusste nie, wie lange es läuft und welcher Bildschirm als nächstes aktiviert wird. Das hat die Sehgeschwindigkeit reduziert und eine Konzentration bewirkt, wie sie im Gegensatz zum endless scrolling steht, das mit dem Konsum digitaler Inhalte üblicherweise assoziiert wird. Nebenbei war es auch ein Bruch mit einer Regel Bildschirm-basierter Ausstellungen, in denen man tote Screens eher verhindern muss, weil sie ein Hinweis darauf sind, dass etwas nicht funktioniert.

In letzter Zeit sieht man viele Naturdarstellungen und von Multispezies bevölkerte fantastische Pflanzenwelten, woher kommt das?

Eine Reaktion auf das Anthropozän, im Wesentlichen die Erkenntnis über das schädliche Ausmaß menschlichen Wirkens auf diesem Planeten. Noch vor zehn Jahren habe ich ganz viel Dystopisches gesehen, aber dann immer mehr positive Zukunftsszenarien. Und diese Visionen haben häufig eher eine kosmologische als eine humanzentristische Perspektive und stehen für ein Naturverständnis, wie man es zum Beispiel bei der Philosophin Donna Haraway findet. Natürlich gibt es auch analoge Kunst, die sich dazu verhält, aber in der digitalen Kunst wirken noch andere Faktoren. 

Welche?

Ich glaube, die Nähe zur Technologie befördert ein Bewusstsein von Vernetzung und Ko-Kreation und die Erkenntnis, dass der Mensch nicht im Mittelpunkt steht. Dazu kommen die technischen Möglichkeiten digitaler Kunst, Räume zu schaffen und Inhalte zum Leben zu erwecken und Geschichten zu erzählen, in die man bei der Betrachtung mit eingeschrieben wird. Weil man digitale Kunst, wie schon erwähnt, auf sehr körperliche Weise, emotional und sinnlich erfährt. 

Sie sagen, digitale Kunst kann zur Lösung der Klimakrise beitragen und zeigen mit Ihrem Projekt Blueshift, wie Sie sagen environmental digital art. Was ist das, und wie kann so eine Kunst wirken, zumal dafür genutzte Werkzeuge wie Blockchain und KI-Modelle die größten Energieschlucker sind?

Ich gebe zu, digitale Kunst und ökologisches Bewusstsein erscheint zunächst als unvereinbar. Aber nachhaltiges Produzieren ist auch in der digitalen Kunst sehr wohl möglich. Kevin Abosch etwa hat für sein KI-Modell einen eigenen solarbetriebenen Server. Oder nehmen wir meine bereits erwähnte Ausstellung: Hätte ich da 15 Screens gleichzeitig laufen lassen statt jeweils nur einen, hätte das 17 Prozent des jährlichen Fußabdrucks eines französischen Durchschnittsbürgers verbraucht. Und für Blueshift wähle ich Positionen aus, die positive, konstruktive Narrative vermitteln. Unser Intellekt kann die Vorstellung nicht verarbeiten, dass der Planet sterben könnte und wir mit ihm. Aber Kunst schafft einen emotionalen, sinnlichen Reflexionsraum und kann buchstäblich am eigenen Leib berühren, und ich glaube fest daran: Wenn das auf diese Weise vermittelte Narrativ positiv besetzt ist, kann es Menschen zum Umdenken bringen und ihr Handeln beeinflussen.

Kann diese Kunst auch tatsächliche Lösungen und Innovationen hervorbringen?

Auf jeden Fall. Das wird vielleicht nur nicht so sichtbar, weil Kunstschaffende sich nicht explizit zum Ziel setzen, Innovationen zu schaffen, sondern weil das ein organischer Bestandteil des Kunstmachens ist. Und auch des Kuratierens. Ich zum Beispiel werde mich als Nächstes wechselnden Zuständen von Materie widmen, dabei wird es auch um Wasser gehen, als Materie und als ökologische Ressource. Vieles von dem, was ich als Kuratorin tue, hat genau dieses Ziel: Unsichtbares sichtbar zu machen, ob Entwicklungen oder menschliche Beziehungen. Denn die sind auch in der digitalen Kunst immer noch das Wichtigste.