Helen Levitt

Die Ästhetik der Straße: Zum Tod der Fotokünstlerin Helen Levitt

Kinder tanzen in Hinterhöfen, spielen auf Gehwegen oder schauen schwebenden Seifenblasen hinterher. Ein Straßenhändler schläft auf der Motorhaube seines Cadillacs. Ein rauchender Mann mit Hut sitzt in einem umgestürzten Kinderwagen. Zwei Frauen laufen über die Straße und lesen dabei Zeitung, und eine Großmutter quetscht sich mit ihren Enkelkindern in eine Telefonzelle.

In Helen Levitts Blick gab es nichts im voraus Geplantes. Die amerikanische Fotokünstlerin drückte im berühmten richtigen Moment auf den Auslöser und hielt den wackligen Augenblick fest, der ihre Fotografien vom Leben auf den Straßen in Spanish Harlem und der Lower East Side, Manhattan, so poetisch macht. Die Ästhetik, so sagte sie einmal, „ist bereits in der Wirklichkeit vorhanden“. Auch wenn auffällt, dass Levitt vor allem Menschen in den ärmeren Gegenden New Yorks porträtierte, war sie keine Dokumentaristin der sozialen Wirklichkeit. „Antijournalismus“, nannte ihr Kollege Walker Evans ihre Arbeit. Sie fotografierte dort, wo sie sich zu Hause fühlte.

Die 1913 im italienisch-jüdischen Bezirk Bensonhurst in Brooklyn geborene Künstlerin, verließ ihre Heimatstadt kaum. Ermutigt von Evans, den sie bei seinen Ausstellungen unterstützte, und inspiriert von Henri Cartier-Bresson, der 1935 in New York lebte und ihre Bekanntschaft machte, kaufte sie sich Mitte der 30er-Jahre eine leichtgewichtige Leica und begann mit der Fotografie. Schon 1943 hatte Levitt ihre erste Einzelausstellung im Museum of Modern Art; diese frühe Annerkennung zeugte von objektiver Urteilskraft im damaligen, männerdominierenden Kunstgeschehen.

Trotz ihres Erfolges als Fotografin widmete sich Levitt eine Dekade lang dem Film, verdiente ihr Geld als Cutterin, war Schnittassistentin von Luis Buñuel und drehte – passend zu ihrem fotografischen Sujet – den Experimentalfilm „The Street, East Harlem“. Als sie 1959 zur Fotografie zurückkehrte, war sie eine der Ersten, die neben dem Schwarz-Weiß-Standard auch mit der Farbfotografie experimentierte. Doch erst in den 90er-Jahren wurde ihr Werk wiederentdeckt. Ein Documenta-Auftritt und zwei Retrospektiven in Deutschland, zuletzt 2008 im Sprengel Museum Hannover, folgten.

Ob in Schwarz-Weiß oder in Farbe: Es ist das „Glück des Zufalls“, wie ihr größter Bewunderer, der Schriftsteller James Agee, treffend formulierte, das Levitts gleichzeitig intuitiv-spontane und exakte Sicht auf die unscheinbaren Kuriositäten des Alltags prägte. Ein Talent, das die Künstlerin mit Cartier-Bresson und dessen Gespür für den „entscheidenden Moment“ teilte. Die Aufnahme des weinenden Jungen, der auf dem dunklen Treppenabsatz sitzt und seine schmerzende Wange hält, während sein Großvater noch die ohrfeigende Hand zurückzieht, wäre Bruchteile von Sekunden später ein anderes Bild mit einer anderen Geschichte geworden.

In der unretuschierten Welt Levitts, ob tragisch oder humorvoll, trifft man auf die Lust einer Einzelgängerin an den alltäglichen, absurden Begegnungen von Menschen in den Straßen New Yorks. Mit ihrem überschaubaren, aber konsequenten Oeuvre hat sie ein bedeutendes Kapitel der Straßenfotografie des 20. Jahrhunderts geschrieben. Über Jahrzehnte hinweg war sie einer präzisen Bildsprache treu, die mehr als das Label „Schnappschuss“ verdient. Ihre „lyrische Fotografien“ (Agee), nehmen direkt und unsentimental die Dramaturgie der Straße in sich auf. Der Stadt, der Straße blieb bis ins hohe Alter Schauplatz ihrer Stücke. Helen Levitt ist am 29. März 2009 im Alter von 95 Jahren in ihrer New Yorker Wohnung gestorben.