Die Schau "Darkside. Fotografische Begierde und fotografierte Sexualität" bekommt in Winterthur Angs vor ihrem Thema und versteckt sich hinter Betulichkeit und viel zu viel Licht

Die Kamera ist das Schlüsselloch, durch das uns der Fotograf in das Hinterzimmer seiner Obsession einlässt. Und es ist dieser gemeinsame Blick auf den nackten, fremden Körper, der uns für immer zu seinen Komplizen macht. In Winterthur verspricht die Kombination aus Ausstellungstitel und -untertitel die Teilhabe an einer ganzen Reihe von besonderen Blickbegierden und Praktiken. Doch gelingt es leider nur zum Teil, diese gleichzeitig voyeuristische wie faszinierende Komplizenschaft mit den Obses­sionen anderer herzustellen. Die Ausstellung traut sich nicht, sich ganz auf subkulturelle Auseinandersetzungen mit verborgenen Lüs­ten zu verlassen, und verschanzt sich stattdessen hinter viel zu viel langweilig kanonisierter Referenzkunst.
 

Fotografien aus der Mode und der Hochkunst, die hier nichts zu suchen haben, hängen so kommentarlos neben wichtigen Zeugnissen aus dem Underground. Arbeiten von Ernest J. Bellocq, dem Fetischpionier, von John A. S. Coutts, dem frühen Bondage-Künstler und von Pierre Molinier, dem Begründer der Travestiefotografie, findet man im Fotomuseum Winterthur in direkter Nachbarschaft zu Auftragsarbeiten von Ellen von Unwerth und Helmut Newton, die den Schauer subkultureller „Perversionen“ für kommerzielle Mainstream-Magazine aufbereitet und benutzt haben. Eine Fotografie für einige Zehntausend Dollar, die in einem Studio entsteht, mag zwar gewisse Qualitäten haben. Mit einer „dunklen Seite“ hat sie aber nichts zu tun.
 

Der Rundgang beginnt mit der Rubrik „Stadt, Nacht, Sexualität“. Hier ist die Beleuchtung so stark wie die Flutlichtanlage in einem Fußballstadion. Als hätte die Verantwortlichen beim Anblick all der sich selbst und andere befriedigenden Leiber im letzten Moment noch die Scham gepackt und zum antierotischen Mittel der Überbeleuchtung greifen lassen. So sieht der Betrachter vor Dirk Braeckmans großformatigem „N.P.-N.R.-05“ anstatt der Nackten im Bett vor allem sein eigenes Spiegelbild in der Schutzglasscheibe. Will man die Frau auf der Fotografie wirklich sehen, muss man den lesenswerten Katalog zur Hand nehmen – ein ironischer, wenn auch eher unbeabsichtigter Kommentar zur Rolle des Museumsbesuchers als Voyeur. Dabei hätten sich die verwinkelten Ausstellungskojen vortrefflich für den Einbau einiger Darkrooms geeignet, in die, schwach beleuchtet, Joel-Peter Witkins Nachstellung von Sandro Botticellis „Die Geburt der Venus“ als Tableau vivant aus Transsexuellen gepasst hätte. Genauso wie Jan Saudeks „The Love“, eine Ménage-à-trois, bei der eine verhüllte Frau ihre gigantischen Brüs­te über die weit gespreizten Schenkel einer zweiten legt, die wiederum von einem Mann mit der Faust penetriert wird.
 

Und in einem plüschigen Kabinett, in mattem Schein, so wie bei Altmeis­ter­zeichnungen üblich, wären auch die Fotografien des 80-jährigen Miroslav Tichý gut aufgehoben gewesen, der sein Leben lang hinter halb nackten Frauen in mährischen Schwimmbädern her war. Stattdessen hat man seine vergilbten Arbeiten wie an einer Pinnwand belanglos aneinandergereiht.
Neben der verunglück­ten Lichtregie ist es vor allem die schiere Fülle des ausgeliehenen Fotomaterials, die Probleme bereitet und sich nur schwer unter den gut ein Dutzend leitmotivischen Überschriften einordnen lässt. Was haben die surrealis­tisch verformten Nackten, die in Philippe Halsmans „In voluptate mors“ einen Totenkopf bilden, unter der betulichen Überschrift „Sexualität als Praxis“ zu suchen? Wieso hängen unter dem Motto „La Poupée“ (Verdinglichung) in einer Reihe so unterschiedliche Exponate wie Hans Bellmers geschnürte, verzerrte Puppen aus der Mitte der 30er-Jahre neben den aseptischen Models von Vanessa Bee­croft, als seien die einen eine logische Fortsetzung der anderen? Und gleich neben diesem lauwarmen Coffeetable-Fotojournalismus, auf den man gern völlig verzichtet hätte, folgt dann wieder ein Klassiker der sexuellen Expression: der Verwandlungskünstler Fergus Greer, der während seines kurzen Lebens in einer langen Traditionslinie von Künstler-Queer-Existenzen tief im Londoner East End verwurzelt war. Hier ist er in ein schwarzes Lackkostüm eingeschweißt zu sehen, der eine Fuß im High Heel, der anderen zu einem Pferdehuf verklumpt. Die Ausstellung wird immer dann interessant, wenn es gelingt, die verborgenen Schätze der Subkulturen der vergangenen Jahrzehnte zu heben. So zählen die Fotografien von Alvin Baltrop zu einem der Höhepunkt der Ausstellung – Baltrop wurde in den 70er-Jahren an den verrotteten Piers der West Side von Manhattan zum Chronisten der explosionsartig wachsenden offenen Homosexuellenszene.
 

Doch viel zu oft gleichen sich die Wände wie Flickenteppiche, auf denen man leicht den Überblick verliert. Und zu allem Überfluss wird es in der letzten Koje dann auch noch didaktisch: Die Ausstellung erweist hier noch schnell den alten Hohepriesterinnen des späten 60er-Jahre-Feminismus ihre Referenz und reiht sie zum Defilee auf – Valie Export, die einst mit Pappkasten samt Öffnungen vor den Brüsten durch Wien lief und Passanten zugreifen ließ; Carolee Schneemann, die sich nackt mit Plastikschlangen auf dem Bauch in ihrer eigenen Installation wälzt. Und auch Hannah Wilke mit ihren unvermeidlichen, am Körper aufgeklebten Kaugummis. Insgesamt hat man das alles schon besser in etlichen anderen und oft auch besser aufbereiteten Kontexten gesehen. Etwas weniger und etwas beherzter hätte, wie bei so vielen Themenausstellungen, auch in Sachen fotografischer Begierde weit mehr bewirkt.