Viviane Sassens Bildband "Pikin Slee"

Die Zauberin mit der magischen Kamera

Fotografie ist ein unerhört flexibles Medium. Wer es beherrscht, muss sich nicht auf nur eine Rolle festlegen lassen. So verstand sich William Klein, der in den 50er- und 60er-Jahren für die amerikanische "Vogue" arbeitete, auch als Künstler. "In and Out of Fashion" nannte er einen kaleidoskopischen Film von 1998, mit dem er seine Bandbreite dokumentierte. Nicht zufällig wählte auch die niederländische Fotografin Viviane Sassen diesen Titel: für einen im vergangenen Jahr erschienenen Fotoband und für ihre erste Retrospektive, die 2012 in Amsterdam und kürzlich in Arles und Edinburgh zu sehen war.

Die 1972 in Amsterdam geborene Künstlerin verglich die Modefotografie einmal mit dem Backen. Irgendwann genüge einem die Kreation leckerer Kuchen nicht mehr. Dann möchte man sein Handwerkszeug für gehaltvollere Aufgaben nutzen, sozusagen etwas mit Nährwert schaffen. Wie gut sie sich darauf versteht, bewies sie im vergangenen Jahr mit ihrem Auftritt auf der Venedig-Biennale. Die freien Arbeiten, die bei der zentralen Schau "Encyclopedic Palace" ausgestellt waren, bezeugten Sassens Auffassung des menschlichen Körpers als Skulptur, die sich auch in ihren Kampagnen für Louis Vuitton, Viktor & Rolf oder Stella McCartney wiederfinden lässt. Viele der in Venedig präsentierten Aufnahmen waren in Afrika entstanden – eine Art Heimreise für die Fotografin, die in Kenia aufgewachsen war, bevor sie als Fünfjährige in die Niederlande zurückkehrte.

Pikin Slee, das Dorf, aus dem die Fotos ihres neuen, gleichnamigen Bildbands stammen, liegt allerdings im südamerikanischen Staat Surinam, der im Süden an Brasilien grenzt. Mitten im Regenwald leben dort knapp 4000 Menschen, in der Mehrzahl Nachfahren versklavter Westafrikaner, denen die Flucht aus von Holländern im 18. Jahrhundert gegründeten Plantagen gelang. Zweimal bereits hat Sassen die Saramaccaner, denen sie sich mittlerweile verbunden fühlt, seit 2012 besucht. Die Anreise ist nicht einfach. Drei Stunden Kanufahrt den Suriname aufwärts sind zu überstehen, bis das Ziel endlich erreicht ist. Die Einwohner von Pikin Slee mögen sehr isoliert von der restlichen Welt leben, ohne Wasser-, Strom- oder Telefonanschluss. Doch sie nutzen, wie die Fotos des Bandes belegen, tagtäglich allerlei Industrieprodukte. Die Plastikflaschen, -schüsseln oder -tüten werden von auswärts ins Dorf gebracht – oder vom Fluss als Zivilisationsmüll angeschwemmt.

Für einige Bilder hat Sassen Stillleben aus Folien, Eimern, Waschpulver, ausgehöhlten Kürbissen, Holzresten und anderen gefundenen Dingen arrangiert. Starke Licht- und Schattenkontraste verleihen diesen Alltagsskulpturen einen besonderen Zauber. Den Klischees von "unberührter Natur" oder "edlen Wilden" verfällt Sassen in der Serie, die teils in Schwarz-Weiß, teils in Farbe ausgeführt ist, an keiner Stelle.
 
Manche Fotografien zeigen die natürliche Umgebung, allerdings nicht ungefiltert. Das banale Idyll einer Flussansicht stört Sassen mit einem vors Objektiv gehaltenen Stück Glas und bewirkt damit einen seltsamen Bild-im-Bild-Effekt. Den Menschen begegnet sie weder als Reporterin noch als Feldforscherin. Sie fokussiert auf Details und suggeriert dabei nicht, einen Überblick über die Welt der Saramaccaner zu verschaffen. Sassens Ansatz ließe sich als "magisch" bezeichnen. Statt die alltäglichen Gepflogenheiten der Dschungelbewohner durchweg realistisch abzubilden, mischt sich die Fotografin gelegentlich mit Improvisation ein. Und statt ethnografisch korrekt vorzugehen, verflicht sie Gesehenes und Erfundenes zu einer neuen Erzählung.

Wer wissen möchte, inwiefern Sassens Aufnahmen das Leben in Pikin Slee abbilden, muss sich anderweitig informieren. Der Band kommt ohne begleitenden Text aus. So könnten etwa die runden Fladen auf dem Blechdach einer Hütte von der Künstlerin selbst platziert worden sein. Doch es ist in Wahrheit Brotteig, der von den Dörflern auf diese Weise in der Sonne getrocknet, also gebacken wird.

Die Saramaccaner, die in den Aufnahmen auftauchen, sind vor allem Männer. Insbesondere schwangere Frauen dürfen nicht fotografiert werden, weil die Einheimischen glauben, dass die Kamera das ungeborenen Kind schädigt.

Wie ein Alien wirkt ein junger Mann, den Sassen mit blauer Farbe angestrichen hat. Mit solchen Körperbemalungen, ein wiederkehrendes Stilmittel der Fotografin, ist sie allerdings vorsichtiger geworden. Vor zehn Jahren ließ sich eine junge Frau aus Sambia von ihr pink einfärben, was auf dem unterbelichteten Foto blutrot aussah. Die abergläubischen Verwandten des Mädchens vermuteten satanische Mächte am Werk. Nur mit demonstrativer Demut konnte die Künstlerin die aufgebrachte Familie besänftigen. Die Kamera als Teufelsding? In Europa glaubt das keiner mehr. Und doch können Fotos magisch sein – wenn eine Zauberin wie Viviane Sassen den Auslöser drückt.

Viviane Sassen: "Pikin Slee", Prestel Verlag, 120 Seiten, 39,95 Euro