Sally Gabori in Paris

Dieses Land, dieses Meer und dieses Licht

Die indigene Künstlerin Mirdidingkingathi Juwarnda Sally Gabori nahm zum ersten Mal mit 80 Jahren einen Pinsel in die Hand, sechs Monate später hatte sie ihre erste Galerieschau. Jetzt ist ihre monumentale Malerei in der Pariser Fondation Cartier zu sehen

Dass Künstlerinnen erst in hohem Alter Karriere machen, ist ein gängiges Phänomen. Auf Louise Bourgeois (1911-2010), die derzeit in Berlin gefeiert wird, wurde der Kunstbetrieb erst spät, zu Beginn der 1980er-Jahre, aufmerksam. Ähnlich Alice Neel (1900-1984), die große Porträtistin des 20. Jahrhundert, sie hatte mit 74 Jahren nicht nur ein Lebenswerk geschaffen, sondern auch ihre erste Einzelausstellung im Whitney Museum of American Art.

Dass eine Künstlerin im Alter von 80 Jahren aber zum ersten Mal einen Pinsel in der Hand hält, um dann, nur sechs Monate nachdem sie mit dem Malen begonnen hat, ihre erste Einzelausstellung in einer renommierten Galerie für zeitgenössische Kunst zu eröffnen, das dürfe einzigartig sein. Die indigene Künstlerin Mirdidingkingathi Juwarnda Sally Gabori lebte vom Fisch, den sie im Meer fing, bevor sie 2005 im Rahmen einer Beschäftigungstherapie an einem Mal-Workshop der indigenen Lardil-Männer von Mornington Island in Australien teilnahm.

Dort mit Acrylfarbe und Leinwand bekannt geworden machte sie die Primärfarben und das große Leinwandformat zu grundlegenden Bestandteilen eines faszinierenden malerischen Werks. Ihr visueller Stil kann weder mit künstlerischen Strömungen der Gegenwart noch mit der Malerei der Aborigines in Verbindung gebracht werden. Letzteres zum Verdruss eines Kunstverständnisses, das weiß, wie die Kunst der Aborigines aussehen und was sie bedeuten soll.

Im Exil

Wie die vielen, sich überlagernden Pinselstriche auf ihren monumentalen, oft sechs mal zwei Meter messenden Leinwände zeigen, liebte Sally Gabori das Malen mit dem schmalen Pinsel und die Arbeit mit der Acrylfarbe, die sie à la prima auftrug. Ihre auf den ersten Blick farbstarken Abstraktionen sind ein einziges Hohelied auf Bentinck Islands; eine eindrucksvolle visuelle Beschwörung der Insel im Golf von Carpentaria im Norden Australiens, auf der Sally Gabori 1924 zur Welt kam und der sie im Alter von 24 Jahren verlustig ging.

Sally Gabori gehörte zum Volk der Kaiadilt, das weitgehend isoliert im äußersten Norden von Queensland lebte und 1944 eine Population von 125 Personen aufwies. Nach einem Zyklon, der ihre Süßwasserquellen zerstörte, wurden die überlebenden 63 Kaiadilt, darunter Sally Gabori und ihre Familie, 1948 in die Presbyterianer Mission auf Mornington Island evakuiert. Was die Kaiadilt einen kurzen Aufenthalt wähnten, entwickelte sich zu einem 40 Jahre andauernden Exil.

Dessen Elend bestand neben dem Verlust ihres Landes und ihres eigenbestimmten Lebens nicht zuletzt darin, dass die Missionare die Kinder von den Eltern trennten. Im Internat der Mission englisch sozialisiert und "zivilisiert" durften sie weder ihre Sprache sprechen noch ihr vorheriges Leben erinnern.  

Bewahrung von Erinnerungen

"Danda ngijinda dulk, danda ngijinda malaa, danda ngad" benennt Sally Gabori, als eine der letzten noch der Kaiadilt-Sprache mächtig, die Quellen ihrer Malerei: "Das ist mein Land, das ist mein Meer und das macht, wer ich bin". Bentinck Island, eine der 22 Wellesley-Inseln, liegt am südlichem Ende des Golfs von Carpentaria. Dessen Küstenlandschaft zeichnet sich durch weite Salzpfannen und zerklüftete Felsen ebenso aus wie durch die vielen Flussmündungen, in denen sich ausufernde Mangrovenwälder über Hunderte von Kilometern erstrecken.

Diese unwirtliche und immer noch weitgehend unzugängliche Landschaft wird von einem dramatischen Himmel überspannt, dessen spektakuläre Lichtwechsel mit dem Phänomen der sogenannten Morning Glory Clouds zusammenhängen, schmalen, aber mehrere Hundert Kilometer langen, rollenden Wolken, die sich mit großer Geschwindigkeit voran bewegen.  

Dieses Land, Meer und Licht sind die visuelle Ressource von Sally Gaboris malerischem Werk. Dass die Kaiadilt keine Maltradition und keine materielle Ikonografie kennen, dass sie weder Köperbemalung praktizieren, noch Symbole verwenden, ermöglichte Sally Gabori eine enorme Freiheit des Ausdrucks. Keine Tradition schränkte sie in ihrem Einfallsreichtum ein. Stattdessen beflügelten sie ihre konkreten Erinnerungen, die sie in einem für sie typischen Farbsystem orchestrierte, um damit die Orte auf der Leinwand zu kartografieren, die mit ihrer Familie oder dem politischen Kampf der Kaiadilt um ihr Land verbunden waren.  

Die Geschichte der Kaiadilt

Die rund 30 großformatigen Gemälde in der Fondation Cartier zeigen drei ihrer sechs Werkgruppen: Thundi, Dibirdibi und Nyinyilki. Bei Thundi handelt es sich um den Ort, an dem ihr Vater geboren wurde. Die langen Farbbahnen von "Thundi, 2010", die sich von rechts oben nach links unten über die Leinwand ziehen, zeigen die langen Wolken der Morning Glories, erinnern in ihrer zylindrischen Form aber auch an den Zyklon, der Bentinck Island verwüstete und das Exil einleitete.

Dibirdibi ist der Ort der kosmologischen Geburt der Kaiadilt durch einen mythischen Felsenfisch, der die Erde mit seinen Flossen umgrub, wodurch die Wellesley-Inseln entstanden. Dibirdibi wurde jedoch gefangen und gefressen. Nur seine Leber blieb übrig, die zur Frischwasserquelle der Kaiadilt wurde. Weil der Totemname ihres Ehemann Pat Gabori auf Dibirdibi zurückgeht, sind die gleichnamigen Gemälde mit ihren kompakten Farbflächen auch immer eine Hommage an den geliebten Mann.

Nyinyilki schließlich ist gewissermaßen der Geburtsort der Kaiadilt als Bürger Australiens. Denn hier wurde mit der endlich 1980 erfolgten Anerkennung ihrer Rechte als Eigentümer des Landes ein kleiner Außenposten errichtet, der es den Kaiadilt, darunter Sally Gabori und ihrer Familie erlaubte, zeitweise wieder auf ihrer Heimatinsel zu leben.

Der an der Südostküste gelegenen Ort ist eine von Seerosen bedeckte Süßwasserlagune und für sein schwüles tropisches Klima bekannt. Das Meer wird durch ein von den Kaiadilt errichtetes, umfangreiches System von Fischreusen durchzogen. Sally Gabori, die wie die anderen Frauen des Stammes fürs Fischen und damit für die Instandhaltung der Reusen verantwortlich, machte sie immer wieder zum Motiv, meist in der Form dicker schwarzer Linien, die das heitere Bunt ihrer Landschaften unterbrechen.   

Gaboris Malerei überrascht

Im Gegensatz zu anderen indigenen Künstlern mit ihrer auf dem Boden ausgelegen Malgründen wie etwa den Rinden, saß oder stand Sally Gabori vor der aufrecht platzierten Leinwand. Mit über 80  Jahren war die geübte Fischerin, die elf Kinder geboren und acht von ihnen aufgezogen hatte, in der Lage zweimal täglich je drei Stunden zu malen. Dabei summte sie gerne traditionelle Lieder, die auf der von der Fondation Cartier und der Familie der Künstlerin eingerichtete Website zu hören sind.

Erstmals ist das Werk Sally Gaboris auf dem europäischen Kontinent zu sehen. Dank ihrer schnellen Bekanntheit hatte sie noch zu Lebzeiten Einzelausstellungen in Großbritannien und den USA. Wer den Flughafen von Brisbane ansteuert, sieht dort Wandarbeiten von ihr, die 2014 entstanden. Schon 2011 hatte das Oberste Gericht von Queensland sie mit einem Wandgemälde beauftragt.

Ihre Erfolgsgeschichte sei bewegend, sagt der Katalogautor Bruce Johnson McLean, eine Spezialist für indigene Kunst und selbst Nachkomme einer indigenen Familie aus Nord-Queensland. Mirdidingkingathi Juwarnda Sally Gabori – deren Name mit ihrem Geburtsort Mirdidingki, einem kleinen Bach im Süden der Insel in Verbindung steht und ihrem totemistischen Ahnennamen Juwarnda, was Delfin bedeutet – übertreffe die Erwartungen der Menschen an die Kunst der Ureinwohner. Und so überrasche sie der Welt mit etwas Schönem –  am Ende einer unschönen Geschichte der Kolonialisierung und erzwungenen Assimilierung.