Corona-Lockdown

Dream on, stream on

Tänzerinnen in Shanghai bei einem Ballett-Kurs, den sie über Live-Stream teilen
Foto: dpa

Tänzerinnen in Shanghai bei einem Ballett-Kurs, den sie über Live-Stream teilen

Das Netz war in den letzten Jahren so etwas wie die Warschauer Brücke am Wochenende, wo alle sich auskotzen und niemand danach aufwischt. Der Corona-Lockdown bietet eine Chance, kontaminierte Online-Räume künstlerisch neu auszufüllen

In meiner ganzen Lebenszeit sind diese Tage bestimmt die existentiellsten und krisenbehaftetsten Zeiten für Kunstschaffende, Kreative und Kultur. Viele stellen fest, wie fragil die gesellschaftliche Akzeptanz von Künstler*innen und die dazugehörigen Lebensmodelle wirklich sind und der Kapitalismus versagt, weil er merkt, dass mit den Prinzipien des Kapitals dieser Tage nur bedingt viel gerettet werden kann, wenn es eigentlich um romantische Termini wie Entschleunigung, Empathie, Solidarität und Respekt geht.

Für die Kultur wird heuer der digitale Raum immer bedeutsamer. Denn er scheint die einzige Option, in Zeiten der sozialen Distanzierung Möglichkeitsräume und gesellschaftliche Interaktion zu ermöglichen. Musik und Kunst waren stets durch ihre realen Orte definiert. Clubs, Galerien, Museen und große Spektakel wie Messen und Festivals. Be there or be square.

Heute findet Livemusik als Stream statt. Und es ist plötzlich kein Supplement mehr, sondern die einzige Methode, an solchen Events teilzuhaben. James Blunt spielte in einer menschenleeren Elbphilharmonie. Die Berliner Philharmoniker streamen digital ihre Aufführungen gratis und statt Clubbesuchen, begnügt man sich mit DJ-Streams vor sterilen Kachelwänden.

Auch in China versammeln sich immer mehr Menschen über TikTok, um DJs und Musiker*innen beim Performen zuzuhören. Die Züricher DJ-Szene kombinierte vergangenes Wochenende einen ausgiebigen DJ-Stream mit unzähligen Residents und dazugehörigem Crowdfunding.

Neubesetzung des Netzes

Teils zaghaft, hilflos und dennoch sinnstiftend wirken diese Bemühungen, zeigen aber, worum sich Kreative – egal ob bildende Künstler*innen, Musiker*innen, Schauspieler*innen und Autor*innen, sich in den nächsten Monaten zu kümmern haben. Der virtuelle, der digitale, binär-volatile Raum kann von uns allen neu territorialisiert werden.

Klar, das Netz war die letzten Jahre so etwas wie die Warschauer Brücke am Wochenende. Wo alle sich auskotzen und niemand danach aufwischt. Wo Brunft, Stumpf, Dummheit und Tamtam sich kondensieren, bleibt man als künstlerisch distinguierte Persönlichkeit natürlich fern. Diese teils durch Rechtsextremismus, Verschwörungstheorien und Testosteron kontaminierten Räume neu auszufüllen und zu definieren, könnte bei aller Frustration, Angst und Sorge Hoffnung spenden.

Denn niemals darf der Eindruck aufkommen, dass Kunst unwichtig oder gar irrelevant sei, nur weil die Optionen der Präsenz derzeit dezimiert werden. Das Schaffen bleibt indes bei aller Indiepflichtnahme der Politik weiterhin Aufgabe der Kreativen. Dem Dodekaphoniker Arnold Schönberg wurde vor 100 Jahren schon in den Mund gelegt: "Kunst kommt nicht von Können, sondern vom Müssen." Das darf in diesen Tagen nicht anders sein.