Anne Imhof und Matthias Lilienthal

Kontaktlos durch die Nacht

In der Arte-Serie "Durch die Nacht mit ..." verbringen zwei Kreative einen Abend zusammen. Künstlerin Anne Imhof und Theatermann Matthias Lilienthal treffen sich zur ersten Folge in Corona-Zeiten – und bleiben in jeder Hinsicht auf Abstand   

Am spannendsten ist das Arte-Format "Durch die Nacht mit ...", wenn sich die berühmten Protagonistenpaare wirklich füreinander interessieren und von Zuneigung berauscht ins Erzählen kommen – ein herzerwärmendes Beispiel ist die Annäherung zwischen Videokünstler Phil Collins und dem Musiker Thurston Moore.

Oder natürlich, wenn während der gemeinsamen Aktivitäten in einer Stadt gewisse Anzeichen von unterhaltsamer Antipathie in die Zweisamkeit tröpfeln. Legendär ist dabei die Folge, in der Künstler und Regisseur Christoph Schlingensief den Publizisten Michel Friedmann nach allen Regeln der Kunst auflaufen lässt. Und auch der Dramaturg Matthias Lilienthal war 2015 in London wenig beeindruckt vom aufdringlich weltgewandten Charme des Kurators Chris Dercon. Im Haus der Künstlers Wolfgang Tillmans erzählt der damalige Direktor der Tate Modern von einer Party bei "einer der reichsten Frauen der Welt", auf der Kulturschaffende mit Politikern und "der ökonomischen Mafia" smalltalkten. "Das ist das Milieu, in dem wir uns durchsetzen müssen", sagt Dercon. "Ich hab mit dieser Welt überhaupt nichts zu tun", kommentiert Matthias Lilienthal eher abgetörnt. Wenn er für das Berliner Theater Hebbel am Ufer (HAU) Sponsorengelder sammeln wolle, dann baggere er vielleicht mal "an ein paar Mittelstandsunternehmen" herum.

Damals stand Lilienthal gerade vor seinem Wechsel vom HAU an die Kammerspiele in München. In diesem Sommer ging seine kontrovers diskutierte Intendanz dort nach fünf Jahren zu Ende und Arte gewann ihn erneut für eine Folge "Durch die Nacht mit ..." - einem Klassiker des Kultursenders, bei dem sich zwei irgendwie kulturschaffende Personen für einen Abend zusammentun und gemeinsam mit Chauffeur eine Stadt erkunden. Für die neue Episode, die am 10. Oktober erstmals ausgestrahlt wird, hat sich Matthias Lilienthal die Künstlerin Anne Imhof eingeladen, die 2017 den Goldenen Löwen bei der Venedig-Biennale gewann und sich mit ihren Ensemble-Performances ziemlich nah am Theater bewegt.

In München geht es weitaus bodenständiger zu als 2015 in London. Lilienthal und Imhof sind sich offensichtlich sympathisch, aber auch ein wenig schüchtern. Sie schauen sich unter anderem die neue Digitalorakel-Installation von Susanne Kennedy in den Kammerspielen an (leider spinnt der dazugehörige Roboter), lassen sich im leeren Olympiastadion von der Frei-Otto-Architektur überspannen und nagen später Hähnchenteile an einem Gourmet-Imbiss ab.

Alles fließt in einer wohlwollenden Entspanntheit

Lilienthal-Imhof ist die erste "Durch-die-Nacht"-Folge in Corona-Zeiten und daher entsprechend abstandsgeprägt. Im Auto ist eine klinische Plexiglasscheibe zwischen den beiden installiert, zu den Gästen der Folge (der Geigerin Anne-Sophie Mutter und dem Regisseur Faraz Shariat) wird gebührende Distanz eingehalten. Nähe zwischen den Hauptfiguren ist also pandemiebedingt schon physisch nicht möglich.

Doch auch in der Unterhaltung kommt man sich nicht wirklich nah. Ab und zu blitzen interessante Sätze auf, bei denen man gern nachhaken würde. So bezeichnet sich Matthias Lilienthal, der eher unkonventionelles Theater in die bayerische Hauptstadt brachte, als zeitweise meistgehassten Mensch in München. Wie jemand, der sich lässig jovial und offen gibt, mit solchen Anfeindungen umgeht, hätte man gern gewusst. Anne Imhof lässt diese Aussage jedoch lächelnd kopfschüttelnd verstreichen.

Überhaupt lernt man in diesen 50 Minuten zwei Kunstschaffende kennen, die sich ihres Tuns und ihrer gegenseitigen Anerkennung sehr sicher zu sein scheinen. Es gibt kein Anbiedern und auch keinen großen Diskussionsbedarf. Alles fließt in einer wohlwollenden Entspanntheit - auch mit den Gästen plaudert man eher höflich als leidenschaftlich.

Die besten Szenen sind die in der Pinakothek der Moderne, wo sich Anne Imhof ein wenig über die Machohaftigkeit im Werk von Joseph Beuys echauffiert. "Der hat sich schon einfach den ganzen Platz genommen", sagt die Künstlerin neben einem Haufen von Beuys' massigen Basaltstelen. Man denkt an Imhofs eigene Performances, die durchaus großen Raum einnehmen, aber statt einer Materialschlacht auf wenige ausgewählte Requisiten und ephemere Gesten setzen.

Später erzählt sie, dass ihr Titel "Faust" für die Venedig-Performance "erstmal eine Ansage" war, und "der einzige Angriff", der ihr in dieser staatstragenden Repräsentationsrolle blieb. Eine Behauptung von Theater also und eine Selbstverortung im Reich der Klassiker und ganz großen Künstler (Männer). Doch auch diese sehr dezent vorgetragene Kampfansage der Künstlerin verpufft im finalen Cut der Sendung - und der Direktor der grafischen Sammlung Michael Hering erklärt Anne Imhof danach erstmal ihre eigenen Zeichnungen, die der junge Freundeskreis der Pinakothek der Moderne angekauft hat. 

Den ansonsten ziemlich reibungsfreien Münchner Abend verlässt man mit großen Sympathien für die beiden Protagonisten, hätte sich aber mehr Reflexion der besonderen Umstände des Treffens gewünscht. Beide Künstler arbeiten auf ihrem Gebiet mit Nähe und Distanz und mit zwischenmenschlichen Kontakten. Es wäre interessant gewesen, mehr darüber zu erfahren, wie sie die Abstandsgebote der Pandemie und die damit einhergehende Theatralik im Alltag empfinden.

Lilienthal inszenierte seinen Abschied im Juli (nach den Dreharbeiten zu "Durch die Nacht mit ...") notgedrungen mit wenigen Zuschauern im weiten Olympiastadion. Mit Anne Imhof spricht er über die Vorbereitungen. Wie er diesen change of plan findet, ob die veränderten Umstände eher Bürde oder Herausforderung für einen Dramaturgen sind, erfährt das Publikum aber nicht.

Auch die wirtschaftliche Ausnahmesituation der Kunst wird nicht angesprochen. Die Sendung versucht eher, das ursprüngliche Konzept der gemeinsamen Erlebnisse unter den neuen Voraussetzungen einzuhalten - und sich dabei so wenig wie möglich stören zu lassen. Ist das jetzt diese "neue Normalität"? Oder so viel TV-Eskapismus, wie gerade in einem dokumentarischen Format möglich? Das Ergebnis ist jedenfalls wesentlich klinischer geraten als die Vorgängerfolgen - und man wünscht sich dringend einen Absturz in einer überfüllten Bar.