Unterwegs in Berlin

Durch die Nacht mit Tee

In der Kunst wird gerade gerne Tee zubereitet: Er hat Komplexität, Tiefe, Konsumierbarkeit und eine langanhaltende Wirkung

Sich zum Teetrinken zu verabreden geht auch bei 28°C. Das Studio von Paul Sochacki ist hoch und hell, es gibt ein paar Zimmerpflanzen, auf dem Glastisch sind Miniaturschälchen aufgereiht. Der Künstler kocht Wasser und öffnet eine Versandtasche aus Aluminium, in der ein Tee-Rad von der Größe einer Vinyl-Single steckt, eingeschlagen in Papier mit chinesischer Beschriftung. Denn Tee gehört eigentlich nicht in Beutel und wächst auch nicht auf Feldern. Er kommt aus einer kleinen Region im Süden Chinas von Bäumen im Wald. Wenn es ein besonders guter ist, von nur einem sehr alten Baum. Mit einem kleinen Meißel bricht man ein paar der getrockneten Blätter heraus. Nach drei, vier Aufgüssen (den ersten schüttet man weg, er dient nur dazu, die Blätter zu wecken und das Schälchen zu wärmen) setzt die Wirkung ein: unaufgekratzte Konzentriertheit, ein Wachgefühl ohne Nervosität. Sollte es zu stark werden, helfe Wein, bietet Paul Sochacki an. Aber kann man überhaupt zu wach sein? Die Frage ist doch eher, warum Tee im Nachtleben keine größere Rolle spielt.

Berlin scheint gerade zur Tee-Stadt zu werden. Ein kleiner Becher grüner Tee ist das erste, was Terence Koh anbietet – nach einem strahlenden Lächeln und einer Umarmung zur Begrüßung. Der kleine Raum in den Kunstsaelen ist leer bis auf ein rosafarbenes Rechteck auf dem Boden, ein Bett aus Sand. Terence Koh trägt wie zu seinen wildesten Zeiten immer noch Weiß. Aber keine Alexander-McQueen-Halskrausen aus Federn, keinen Nerz mehr, sondern eine Art Karateanzug, so bescheiden, dass er auf den Gürtel verzichtet. Kohs Karriere war steil und hysterisch, dann verschwand er aufs Land und verlor das Interesse an gängigen Kunstformaten. Jetzt verschenkt er Massagen. Hinlegen, Augen zu, Terence Koh nimmt am Kopfende am Boden Platz und beginnt. Wenn er fester aufdrückt, knirschen die Kristalle unter den Schultern. Schaut man heimlich mal nach ihm, sieht man nur seine Haare, unter dem Haaransatz steht ihm der Schweiß auf der Stirn. Aufmerksamkeit und Entspannung widersprechen sich nicht, das hat schon das Teetrinken zuvor gezeigt. Als wir auseinandergehen, haben wir kein einziges Wort getauscht, nur Verbeugungen und Lächeln.

Das Zeremonielle, erzählt Ying Le, die Freunde und Bekannte zu einem Tee-Abend in ihre Räume eingeladen hat, kam zum Teetrinken erst viel später hinzu. Ein buddhistischer Mönch brachte den Tee nach Japan, die Formalisierung ist religiösen Ursprungs. Für sie ist Tee aber eher etwas, das die Verbindung zur Natur herstellt. So lässig, freundlich und mit würdevoller Beiläufigkeit, wie sie ihn für Freunde und interessierte zubereitet, stellt Tee auch die Verbindung zu Menschen her. Ying Le hat in London am Central Saint Martins College Kunst studiert, ursprünglich kommt sie aus Shanghai, aufgewachsen ist sie in Oslo, aber ihren Umgang mit Tee hat sie in Berlin perfektioniert. Früher betrieb sie eine Tee-Bar, jetzt trifft man sie nach Vereinbarung. Zuerst wird ein weißer Pu-Erh Tee von über hundert Jahre alten Bäumen aufgegossen. Er ist klar, goldfarben und schmeckt süß wie weißer Pfirsich. Mit jedem Aufguss verändert sich der Geschmack ein wenig.

Die Bäume, von denen der beste Tee der Welt kommt, sind oft nicht besonders groß oder imposant. Wir probieren einen roh fermentierten Pu-Erh Tee, der leicht "gewokt" wurde und ein wenig geröstet schmeckt. Als rieche man an einem zarten, hellen Stück Wildleder. Inzwischen ist allen Gästen sehr warm, die Temperatur des Tees breitet sich im ganzen Körper aus. Die nächste Sorte mache manche Leute besonders nachdenklich, sagt Ying. Es ist ein Tee, von dem nur fünf Kilogramm pro Jahr produziert werden. Er wird hergestellt vom Chefredakteur des Pu-Erh-Magazins, der zugleich Dichter und Künstler ist. Sein Tee ist zweimal in Folge zum besten überhaupt gekürt worden. Selbst wenn man ihn schon geschluckt hat, verändert sich der Geschmack noch minutenlang. Die Komplexität des Geschmacks ist für Laien feststellbar, aber nicht zu entziffern.

Tee ist nicht Kunst, aber es gibt mehr Parallelen als vermutet, nicht nur in der Eignung als Statussymbol wegen hoher Preise. Als sie noch ihre Tee-Bar in der Tucholskystraße hatte, kamen viele Galeristen aus der Gegend, die selbst teure Tees in China gekauft hatten und jetzt von Ying die Expertise wollten. Vieles sei unterdurchschnittlich gewesen, sagt Ying Le, die Chemikalien und Aromastoffe immer herausschmeckt. Die Galeristen kamen nie wieder.

Andere Besucher hätten alles über Tee von ihr wissen wollen und dann sofort selbst angefangen, Teeseminare anzubieten. Das möge sie an Berlin, sagt Ying: "Es wird wenig ausgegeben, aber die Lust auf Aneignung, Wissen und Spezialisierung ist grenzenlos."

Es ist schön, in interessanter Gesellschaft nachts in Berlin Mitte auf dem Boden zu sitzen, an diesen einen mehr als hundertjährigen Baum in China zu denken und nicht zu bereuen, dass man die nächsten Stunden nicht schlafen kann. Ein paar der rosa Kristalle von Terence Kohs Kopfmassage rieseln aus dem Haar auf den Rand der Teeschale. Es war Salz.