Keith Haring im Porträt

Einer für alle

Noch immer gilt Keith Haring als Schöpfer banaler Strichmännchen, nicht als genuiner Künstler. Zeit für die Wiederentdeckung eines Visionärs – in einer ganz persönlichen Begegnung

Mein erstes wirkliches Zusammentreffen mit dem Werk fand einige Monate nach Keith Harings Tod statt, an einem Nachmittag im Spätsommer 1990. Die Erinnerung daran ist für mich untrennbar mit dem Gefühl von Aufbruch verbunden, mit dem Beginn einer Freundschaft und einer Ermutigung: dass ich selbst "Künstler" sein und mein Leben der Kunst widmen kann.

Ich saß damals mit Marc Brandenburg in einem McDonald's am Berliner Ku'damm. Ich glaube, ich trug eine Kette aus goldenen Kastanien über einem karierten Sakko und Kopftuch. Zwischen Shakes und Pommes und Ketchuplachen lag aufgeschlagen vor uns Keith Harings "Eight Ball", sein letztes Buch, das ein japanischer Verlag 1989 herausgebracht hatte. Haring war mit nur 31 Jahren an den Folgen von Aids gestorben. Wir hielten eine Art Gedenkstunde ab. Marc war mit Haring befreundet gewesen. Für mich hatte er mit Basquiat und Warhol eine Trinität gebildet, die jetzt endgültig zu einer unerreichbaren Gemeinschaft von Heiligen geworden war. Und nun dieses Buch, das poetischer, expressiver, abgründiger war als alles, was ich je von ihm gesehen hatte.

Bereits der Titel, auf dem eine Hand nach einer Billardkugel mit einer 8 greift, erschien magisch doppeldeutig: Die liegende 8 ergibt das Symbol für Unendlichkeit, zugleich sind im Slang auch 3,5 Gramm Kokain ein "Eight Ball". Der Band sei in einer Zeit entstanden, schreibt Haring in seinem Vorwort, in der er nach Antworten forschte: "Aber nachdem ich dreißig Jahre hier verbracht habe, wirft jeder Tag nur mehr Fragen auf. Dieses Buch ist das Testament dieser Suche." Die Grundlage bilden Fotos, Zeitungsausrisse, alte Zeichnungen – ein visuelles Gedächtnis aus den letzten Jahrzehnten, das Haring in Collagen auf 20 Seiten ausbreitet und mit feinen Tuschezeichnungen und rot und grün leuchtender Gouache überarbeitet.

Wir legten unsere Hände vergleichend auf den lebensgroßen schwarzen Abdruck von Harings Hand und sahen die Bilder an, die, sagt Haring, um die "Mysterien von Liebe, Leben, Tod und Kunst" kreisen. Aus Farbschlieren entstehen Monster und Körper, die an Picassos "Guernica", die Mobiles von Alexander Calder oder die Malerei von Joan Miró denken lassen. Fragile Linien bilden Gerippe, Spiralen oder Strahlen, die um die unterschiedlichsten Motive und Protagonisten tanzen: Michael Jackson, nackte Jungs auf den fotografischen Bewegungsstudien von Eadweard Muybridge, Oscar Wilde, Martin Luther King, die trauernde, in Schwarz gehüllte Kaiserin von Japan.

Der "Keith-Haring-Moment"

Während wir uns darüber unterhielten, was uns an Harings Bildern, seiner Malerei gefällt, sprachen wir eigentlich über uns – darüber, was Kunst für uns sein soll, unsere Angst vor Aids, Tod, über Aktivismus, was wir von unserem Leben erwarten. Wir beide waren Autodidakten und hatten, nach ersten Ausstellungserfahrungen in Off-Spaces, keine Vorstellung, was der Kunstbetrieb eigentlich ist. Damals wussten wir noch nicht einmal, ob wir Künstler sein, ob wir dazugehören wollten. Gerade weil es gänzlich auf Pathos oder große Gesten verzichtet und dabei ganz ernsthaft Malerei, Kunst- und Zeitgeschichte, high und low miteinander verknüpft, war "Eight Ball" eine ungeheure Ermutigung. Das Buch brachte unsere Gedanken, unsere Imagination ins Rollen und uns einander näher, indem es uns ein spielerisches Vokabular lieferte.

Dieser "Keith-Haring-Moment" in meinem Leben war eigentlich kein Zufall. Denn "Eight Ball" verkörpert auf eine wunderbare Weise die große Fähigkeit seines Werks. Es wendet sich auf eine fast spirituelle Weise ganz und gar dem anderen zu. Laura Watt, eine Kritikerin der "New York Times", beschrieb das so: "Es gibt überhaupt kein Ego in diesen Malereien, der Akt ist rein, ganz so, als würde man einen Weihnachtsbaum dekorieren – für die Kinder, nicht für sich selbst." Alles, was Haring je geschaffen hat, ist Teil einer viralen, visuellen Sprache, deren größtes Anliegen es ist, wirklich mit jedem zu kommunizieren, sich im Bewusstsein aller einzunisten. Babys, Hunde, Pyramiden, fliegende Untertassen – sein Schaffen gilt als fröhlich, als neonfarbene Feier des Lebens. Dennoch hat kein anderer Künstler so deutliche Chiffren für Folter, Genozid, Rassismus, Homophobie gefunden und ein apokalyptisches Bild der menschlichen Existenz gezeichnet. Viele von Harings Arbeiten waren voller vitaler sexueller und perverser Energie, sprachen unverhohlen vom Tod, von Unterdrückung und Gewalt. Er vollbrachte es, dass Menschen mit seiner Kunst in Berührung kamen, sie verstanden, über ihre Themen sprachen, ohne dabei Angst oder Befremdung zu empfinden.

Ich habe ihn seit diesem Nachmittag dafür geliebt. Doch ebendieses Chiffrensystem, mit dem er in den 80ern radikal und dabei kommerziell erfolgreich den Anspruch auf eine antibourgeoise, nicht-elitäre Kunst formulierte, gilt heute, über 20 Jahre nach seinem Tod, in weiten Teilen des Kunstdiskurses als nicht mehr relevant, seiner Zeit verhaftet, indiskutabel. Nach Bernard Buffet, der besonders wegen der populären Kaufhausreproduktionen seiner Clownbilder als "Kitschmaler" in Ungnade fiel, ist Haring wohl der nächste prominente Vertreter der Kunst des 20. Jahrhunderts, dem als "Merchandising-Künstler" ein seriöser Rang in der Kunstgeschichte gern mal abgesprochen wird.

Schon zu Lebzeiten, noch bevor Haring seinen Pop Shop 1986 in New York eröffnete, wo er ein breites Sortiment von Shirts, Buttons, Mützen und Stickern verkaufte, regte sich Widerstand gegen seine Chiffren, die sich beinahe gewaltsam ins öffentliche Bewusstsein einschrieben. Ein New Yorker Konzeptkünstler entwarf einen Anti-Haring-Sticker mit einem durchgestrichenen Strahlenbaby, weil er Angst hatte, die Dinger seien bald überall: "Wenn man irgendwo in der Lower East Side ein Nickerchen machen wollte, lief man Gefahr, damit tätowiert zu werden."

Kunst und Kommerz

Mit der Eröffnung des zweiten Pop Shops 1988 in Tokio überschwemmten Harings Produkte dann endgültig den Markt, wie der Kunstkritiker Bill Arning beschreibt: "Haring ritt den Tiger des Kommerzes und war überall, global und perfekt in seiner medialisierten Allgegenwart." Nach seinem Tod setzte sich dieser Overload weltweit in Museumsläden fort. Gleichzeitig wurde sein Stil immer wieder aufgegriffen und kopiert. Harings Babys begannen sich penetrant fortzupflanzen, nicht nur durch das Original-Merchandising, sondern durch Plagiate, die Harings Figuren irgendwie ähnelten, aber dabei plump und hässlich waren. Diese Klon-Babys mutierten zu kitschigen Platzhaltern für soziales Engagement und eine bunte, lustige Gesellschaft. Sie suggerierten Wärme und nisteten sich dabei dort ein, wo es eigentlich kalt und lieblos ist: auf Mutters Kaffeetasse von der POCO-Domäne, auf Flugblättern von Aidshilfen und Anti-Rassismus-Initiativen, auf Wandbildern in Rathäusern und Jugendzentren.

Der Anblick von mit Klon-Babys befallenen Berliner Buddy-Bären versetzte auch meiner Liebe zu Haring einen Dämpfer. Spätestens Ende der 90er schien es, als wäre Harings Idee einer "Kunst für alle" auf der Resterampe geendet, seine einst so kraftvolle visuelle Sprache ausgelaugt, ein Benetton-Multikulti-Relikt aus dem hedonistischen New York der frühen 80er. Was aber immer blieb, war die nostalgische Verehrung für die Post-Punk-Wave-Szene dieser Zeit, die Haring repräsentierte und in der er groß geworden war: Bilder von Halloweenpartys und Performances im Club 57, der Danceteria oder dem Mudd Club. Die schwitzende Menge, die in der Paradise Garage zu den Klängen von Junior Vasquez ausflippte. Die Freundschaften und Kooperationen mit Fab 5 Freddy, John Sex, Kenny Scharf, Madonna, Grace Jones, Andy Warhol. Haring stand für einen dreckigen Traum – dafür, dass es keine Trennung zwischen Sub- und Hoch- und Popkultur, Arbeit und Leben, Kunst, Musik, Mode oder Design mehr gibt.

Auch deshalb hatte die Abkehr von Haring etwas Borniertes. Sie bestätigte, dass dieser Traum böse endet, wenn er real wird. Gerade wegen seiner ungeheuren Popularität und weil es eben nicht nur im etablierten Kunstbetrieb funktionierte, wurde Harings Werk als naiv, als zu grafisch, zu kommerziell, als Graffiti- oder Street-Art stigmatisiert. Da halfen auch die Katalogtexte nicht, die gebetsmühlenartig wiederholen, dass er an der Kunsthochschule ausgebildet wurde, Semiotikkurse besuchte, ein klassischer Studiokünstler war und unzählige Ausstellungen konzipierte und kuratierte. Wer allerdings den Pop Shop kannte oder dessen Rekonstruktion, die 2009 in der Londoner Tate Modern zu sehen war, erahnte, dass es Haring um etwas anderes ging als um die bloße Vermarktung seines Designs.

Der Pop Shop war eher die Persiflage eines Ladens, ein richtiger Kinderkaufladen mit einem eingebauten Kiosk. Er war eine kulissenhafte Installation, die mehr an einen Agitprop-Stand erinnerte als an eine Boutique. Haring hebelte hier die kapitalistischen Gesetze von Angebot und Nachfrage aus, indem er die Nachfrage befriedigte, anstatt seine Kunstprodukte künstlich zu limitieren. Das unterminierte nicht nur die Regeln des Kunstmarkts, der auf Exklusivität, Mangel, hohe Preise und limitierten Zugang setzt, um an sein Geld zu kommen. Es diente auch einem Ziel, das er schon verfolgte, als er Ende der 70er kostenlose Sticker und Buttons verteilte: seine virale Sprache in die Welt zu setzen. Man muss nur an die britische Designerin Katharine Hamnett denken, um Haring zu verstehen. In den 80ern wurde Hamnett mit ihren Slogan-T-Shirts berühmt, die mit riesigen Blockbuchstaben bedruckt waren und von Popbands wie Queen oder Wham! getragen wurden. Hamnett setzte ihre Mode in Videos und auf der Bühne als Protestvehikel ein, gegen Krieg oder Atomkraft. Bei einem Treffen mit Maggie Thatcher trug sie ein Shirt mit der Aufschrift "58% DON'T WANT PERSHING".

Auch Haring hatte ähnlich eindeutige Botschaften, etwa gegen Apartheid oder für Safer Sex. Ob er nun Geburtstagskarten für Gloria von Thurn und Taxis oder eine Mauer in der Bowery oder einen Baby-Button gestaltete, immer verstand er seine Kunst als Form von Protest. Hierbei funktionierte sie jedoch eher wie eine chiffrierte Bildsprache, die individuell lesbar ist und immer wieder aus neuen Perspektiven decodiert werden kann. Haring teilte mit seinen Freunden und Heroen William S. Burroughs und Brion Gysin die Auffassung, dass Sprache, auch die visuelle Sprache der Kunst, parasitär ist und wie ein Virus funktioniert.

Neuentdeckung

Die Schau "Keith Haring 1978–1982", die zuvor in der Kunsthalle Wien und im CAC in Cincinnati gezeigt wurde, ist gerade in der Barbara Gladstone Gallery in Brüssel zu sehen. Sie dokumentiert das Frühwerk eines Künstlers, der erstaunlich heutig wirkt. Harings Cut-ups, seine aktionistische Copy-Art, mit der er Mülltonnen, Haltestellen und Laternenpfähle in der Lower East Side bepflastert, seine kaum bekannten Videos, in denen der performative Charakter und sein konzeptioneller Umgang mit dem Raum deutlich werden – all das zeigt eine Komplexität, die angesichts des Marketingterrors häufig übersehen wird.

Überhaupt sollte Haring besonders in Krisenzeiten ein Vorbild für kommende Generationen sein. Während heute viele Künstler denken, es reiche, politisch korrekte Kunst zu produzieren und den politisch unkorrekten, schmutzigen Job des Verkaufens den Galeristen zu überlassen, hat Haring das System konsequent infrage gestellt. Seine öffentlichen Arbeiten, der Pop Shop, all seine Aktionen, sind nicht aus Frohsinn geboren, sondern weil er von Anfang an den Glauben an das Kunstsystem verloren hat.

In seiner Autobiografie beschreibt er, wie er als Assistent in der Galerie des New Yorker Kunsthändlers Tony Shafrazi arbeitete. Bei einer Vernissage von Keith Sonnier brach er 20 Minuten lang in Tränen aus, weil die Leute "dämliches Zeug laberten" und seine Träume von der Kunstwelt zerbarsten. Diesen Mythos konnte ich also begraben, meinen idealistischen Glauben, dass dies eine lohnende Aufgabe sei. Es musste eine völlig andere Motivation geben, Kunst zu machen, als das Streben nach Erfolg innerhalb der Kunstwelt. Haring hat sich nicht entmutigen lassen. Er hat gewusst, dass es kein Entkommen, sondern nur einen Markt gibt, den man attackieren und umkrempeln kann. Auch wenn er gern als kinderliebender Kauz gesehen wird, der Spielplätze oder Lunaparks ausstaffierte, thematisierte er mehr noch als Warhol die Ökonomie der Kunstproduktion.

Und er griff in sie ein, indem er Viren aussetzte – Mandalas und Codes aus Hunden, Babys, Penissen oder Ufos, die das öffentliche Bewusstsein infiltrierten. Ob er mit den Konsequenzen gerechnet hat oder die Marketingwelle gar als Bestandteil seiner Kunst gesehen hätte, lässt sich nur schwer sagen. Er war ja erst 31, in einem Alter, in dem andere ihre Karriere beginnen, als er selbst einem Virus zum Opfer fiel.