Archiv in Athen

"Helmut Lang hat in der Mode einen Status wie Warhol in der Kunst"

Der Designer Helmut Lang hat mit seinem gleichnamigen Label die Mode der 90er-Jahre geprägt wie kein Zweiter. Auch nach seinem Ausstieg ist er unvergessen. Ein Besuch in dem privaten Athener Archiv Endyma, wo der 26-jährige Sammler Michael Kardamakis tausende Kreationen des Österreichers verwahrt

Kommt man aus der Gluthitze Athens in die Vierzimmerwohnung, die Endyma beherbergt, hat das fast so etwas Erhabenes wie ein Besuch des Archäologischen Museums ein paar Häuser weiter: Draußen mag die Gegenwart weitereilen, hier liegt das Ewige. Naja, ein bisschen zumindest. Es riecht nach heißem Bügeleisen und so gar nicht muffig wie oft in Second-Hand-Läden. Über den Kleiderständern steht in Großbuchstaben "BE PURE BE VIGILANT BEHAVE" auf die Wand geschrieben, ein Motto, das sich auf Raf-Simons-Entwürfen aus den frühen Nullerjahren findet.

Michael Kardamakis trägt ein weißes T-Shirt, kurze blaue Hose mit weißen Kontrastnähten, transparente Socken in klobigen schwarzen Schuhen. Eher keine Stücke aus seiner Sammlung, denn die zieht er nicht so gerne an. Er ist Gründer und alleiniger Betreiber von Endyma, einer Sammlung aus 3000 Objekten, davon die Hälfte von Helmut Lang, als der noch Designer der gleichnamigen Marke war.

Immer wieder kommen Designer verschiedener Modelabels hierher, um zu Recherchezwecken Vintage-Kleidung anzuschauen, auszuleihen oder zu kaufen. Endyma ist auch E-Shop, in dem jeder die Stücke erwerben kann.

Kardamakis führt herum. Raum eins und Büroraum: die Helmut-Lang-Sammlung. Auf einigen Kleiderständern sind die Stücke gereinigt, geflickt und auf sonstige Weise restauriert, auf anderen Ständern steht die Restaurierung noch aus. Raum drei: Schuhe, Taschen, Ketten, Schmuck und andere Accessoires. Raum vier: Kleidung aus den 80er-Jahren von Designern aus Belgien, Deutschland, Italien und Großbritannen.

Nachdem wir uns zum Gespäch hingesetzt haben, steht Michael Kardamakis immer wieder auf, greift sich eine Jacke, einen Rock, ein Shirt, um daran etwas zu demonstrieren oder das Stück einfach gerade auf den Bügel zu hängen.


Michael Kardamakis, wie sind Sie Sammler geworden?
Ich habe im englischen Norwich Kunstgeschichte studiert und immer mehr über Mode geforscht. Ich ersteigerte hin und wieder auf Ebay Sachen von Helmut Lang, Raf Simons und anderen Designern, die ich mochte und um die sich vor zehn Jahren noch niemand groß kümmerte. Wenn etwas nicht passte, habe ich es wieder auf die Plattform gestellt, aber mit einer detaillierten Beschreibung: zur Geschichte, zu den Materialien, zur Inspiration dahinter. So konnte ich viel höhere Preise erzielen und fing mit dem flipping an: Kauf ein Stück und verkaufe es für einen Preis, mit dem du wiederum zwei Stücke kaufen kannst. Damit meine immer detaillierteren Texte nicht verloren gehen, gründete ich einen eigenen E-Shop. Den nannte ich Endyma, was "Kleidung" auf Griechisch bedeutet. Nicht sehr originell, ich weiß.

Aber damit waren Sie dann noch kein Sammler …
Es gab immer Stücke, die ich nicht verkaufen wollte, so dass mein Archiv wuchs und wuchs. Irgendwann fing ich an, die Sammlung zu verbessern: Ich habe nicht so bedeutende Stücke verkauft und mit dem Geld gegen wichtigere eingetauscht. Heute besitze ich insgesamt 3000 Stücke, von Lang, Simons, Burberry Prorsum und anderen europäischen Designern, die in den 90ern und frühen Nullerjahren aktiv waren. Bei Helmut Lang, 1500 Objekte, konzentriere ich mich auf die Zeit von der Gründung der Marke Helmut Lang 1986 bis zu seinem Weggang aus dem Unternehmen 2005. In dieser Zeitspanne wiederum interessiert mich am meisten der Abschnitt von den frühen 90ern bis zu den früher Nullerjahren.

Nebenbei haben Sie dann sicher viel Wissen angehäuft.
Das flipping ist eine gute Art des Lernens: Man kauft, eignet sich Wissen über Stoffe und Schnitte an und verkauft schließlich weiter. Es wird schnell eine ziemlich nerdige Angelegenheit. Man sucht sich Informationen aus dem Internet zusammen, denn es gibt keine umfassenden Publikationen zur Arbeit Helmut Langs. Seine Entwürfe sind auch schwierig zu datieren, weil er 20 Jahre lang das das gleiche Label in die Kleidung einnähen ließ. Heute kann ich jedes Teil ziemlich gut einordnen.

Was fasziniert Sie an Helmut Lang?
Seine Männermode verfolgt einen interessanten Ansatz. Seine Entwürfe waren unisex und selbstbewusst, sehr klassisch, sehr minimalistisch, als wäre kaum etwas da. Helmut Lang hätte nie eine offene Tasche entworfen, nie Baggy Pants. Dann aber wieder gibt es diese ungeheure Vielfalt in Materialien und Details. Auch wenn er sich auf semantisch Ebene treu blieb, machte er unberechenbare Dinge, etwa Schlaufen an eine Jacke nähen, so dass man sie wie einen Rucksack tragen kann. Als ich damals anfing, mich dafür zu interessieren, habe ich nichts Vergleichbares gefunden, heute ist seine Ästhetik sehr populär. Jetzt ist es schwieriger zu sehen, wofür er stand, weil er heute einen Status hat wie ein Andy Warhol in der Kunst, also als jemand, der so vieles vorweggenommen hat, was heute selbstverständlich ist.

Und wie wurde er damals gesehen?
Es war damals teure Kleidung für eine neue Generation. Kritiker haben ewig über Details diskutiert: Damenhosen mit Gürtelschlaufen wie bei Herrenhosen! ein langer Damenmantel im Schnitt eines Herrenmantels! Heute geht man zu Zara und kauft so etwas, es bedeutet nicht mehr viel.

Helmut Lang
Foto: Jandreasson, CC BY-SA 3.0

Selbstporträt von Helmut Lang

Helmut Lang lebt mittlerweile auf Long Island bei New York und arbeitet nur noch als Künstler. Haben Sie ihn mal getroffen?
Nein. Es geht mir auch gar nicht um die Person, sondern um die Kleidung, und die wurde von einem ganzen Designteam entworfen, das sich immer wieder veränderte. So kann man 2001 einen klaren Cut beobachten, die Kleidung wurde fließender. Und doch sind die Produkte durchgehend gut, während andere Designer und Designerinnen 70 bis 80 Prozent Mist produzieren und nur dann und wann herausragende Einzelstücke. Helmut Lang hat gute Basics hergestellt, fantastische Jeans, alles sehr gut verarbeitet. Die Sportswear ist super, überhaupt ist Langs Arbeit am besten im preisgünstigeren Segment, wenn alles ganz pur ist. Bei den meisten Designerinnen und Designern fühlt es sich zu gewollt an: Jemand, der eigentlich High Fashion macht, produziert auf einmal T-Shirts, weil sie oder er mehr verkaufen will. Aber jemand, der tolle Mäntel macht, macht nicht unbedingt tolle Jeans. Helmut Lang hingegen hatte Ideen für alles.

Warum hat er dann das Unternehmen verlassen?
Sein letztes Jahr war schwierig, es war, ehrlich gesagt, ein Desaster. Hedi Slimane wartet als neuer Chefdesigner bei Dior mit hochkomplexer Herrenmode auf, fünf gummiverdeckte Reißverschlüsse an jedem Ärmel, alles war so "extra", so detailliert und schön ausgeführt. Helmut Lang konnte da nicht mithalten, er stand für etwas anderes. Niemand wollte seine Entwürfe noch. Ich habe in meinem Archiv diese tollen Stücke aus der letzten Saison, sehr farbenfrohe Kleider, die heute sehr wertvoll sind. Bei einem Rock in meiner Sammlung von 2003 ist noch ein Preisschild dran: 37 Euro! Ich habe das Zehnfache dafür gezahlt. Helmut Lang ist auf einer Welle geritten, die plötzlich vorbei war. Die Trends änderten sich, aber Lang wollte oder konnte seine Identität nicht wechseln. Gut für ihn, so erinnern wir uns heute an ihn als einen Designer mit Identität. Mode ist und bleibt ein kommerzielles Ding. Selbst wenn du ein Hardcore-Designer mit Charakter bist: Wenn du den Trends nicht folgst, kann es nicht von Dauer sein.

2003 für 37 Euro verkauft, heute das Zehnfache wert: Helmut Langs "Anti-Gravity-Aviator"-Rock aus Winterjersey-Stoff
Foto: Endyma

2003 für 37 Euro verkauft, heute das Zehnfache wert: Helmut Langs "Anti-Gravity-Aviator"-Rock aus Winterjersey-Stoff

Designerinnen und Designer beklagen den großen Druck in der Branche. Wie unterschied sich die Modewelt vor 20 Jahren von der heutigen?
Damals gab es weniger Kollektionen, während es mittlerweile häufig acht im Jahr sind. Es war auch mehr Geld da damals. Helmut Lang hat als Newcomer-Brand so viele Samples gemacht, jeden Entwurf in in fünf Farben und jede Farbe in zehn verschiedenen Stoffen ausgeführt. Das war teuer! Aber vielleicht war die Marke Helmut Lang auch nie eine wirkliche Newcomer-Marke, sondern wurde nur als solche inszeniert, obwohl der Markt von Anfang an da war und die Verkäufe gut.

Die Marke Helmut Lang gehörte von 1999 bis 2006 Prada und heute dem japanischen Textilkonzern Fast retailing group, der unter anderem auch Uniqlo besitzt. Wie finden Sie die Marke Helmut Lang heute?
Sie interessiert mich nicht wirklich. Es ist ein anderes Produkt. Ich sehe keine originellen Ideen, sie wollen einfach eine trendige Marke sein. Es ist eine Brand, die sich selbst verwässert hat durch Casual Fashion im mittleren Preissegment. Die Kleidung wird in Uniqlo-Fabriken hergestellt und hat eine geringere Qualität als frühere Lang-Stücke. Nach Helmut Langs Weggang wechselten die Designerinnen und Designer. Manchmal gab es auch mehrere, die gleichzeitig an Produkten für verschiedene Märkte arbeiteten. Wenn du als Label erstmal den Eindruck gemacht hast, keine Integrität zu haben, ist es schwer, sich davon wieder zu lösen. Mal haben sie aggressive Herrenmode für fashion dads gemacht, Drop Crotch Sweatpants und Hoodies mit schlechten Prints, dann kam 2017 Isabella Burley, Chefredakteurin von "Dazed", die sich von den 90ern inspiriert fühlte, allerdings aus den falschen Gründen, nämlich nicht um das Helmut-Lang-Erbe zu ehren, sondern weil es grade Trend war. Und nächstes Jahr macht man dann Leopardenprints oder was auch immer gerade in ist. Ich weiß das, sie wissen das, jeder weiß das. Das hat mit Mode nichts zu tun. Aber ich arbeite manchmal mit ihnen.

Inwiefern? Damit die heutige Marke Helmut Lang Repliken der alten Marke neu auf den Markt bringt?
Ja, die Originale dazu kommen dann von mir. Bislang war das aber eher eine traurige Angelegenheit, weil sie aus keinem ersichtlichen Grund viele Details nicht richtig ausgeführt oder ganz weggelassen haben. Aber grundsätzlich gefällt mir die Idee von Repliken. Ann Demeulemeester hat in ihrer "Collection Blanche" ältere Stücke gut neu aufgelegt, aber off the runway, Magiela ist berühmt für seine "Replica", jedes Stück hat ein Label, das darüber informiert, was es war und was es ist, welche Materialien damals und heute benutzt wurden. Das sind Nerds! Man sieht, dass sie ihre Arbeit respektieren.

Gibt es heute Brands, die den damaligen Geist von Helmut Lang verkörpern?
Helmut Lang war in den 90ern aufregend, weil es die 90er waren und es Helmut Lang war. Würde man das alles so heute nachmachen, würde es nicht funktionieren. Aber ja, es gibt Brands, die Helmut Lang mehr verkörpern als die aktuelle Marke Helmut Lang. Das neue Bottega Veneta oder
Céline unter Phoebe Philo, was Ästhetik und Purismus angeht. Sogar bei Saint Laurent von Hedi Slimane konnte man einige Parallelen erkennen, wie es da um diese strikte Garderobe ging: weißes Shirt, blaue Jeans, schwarze Jeans, Lederjacke - ein ähnlicher Vibe wie bei Helmut Lang damals.

Wird die Suche nach Helmut-Lang-Originalen nicht immer schwerer, wenn dauerhaft neue Sachen mit dem Label auf den Markt kommen?
Im Gegenteil! Wenn heute eine Ebay-Stichwortsuche "Helmut Lang" zu 5000 Ergebnissen führt, beziehen sich vielleicht fünf davon auf alte Helmut-Lang-Objekte. Ich kann die unterscheiden, aber andere nicht, deshalb kaufen sie die nicht weg. Heute benutze ich ohnehin nicht mehr so viel Ebay, sondern man kennt Endyma und bietet mir direkt Sachen zum Tausch und Verkauf an.

Im Athener Archiv Endyma, eine Sammlung von Kleidung von Helmut Lang und anderen Designern
Foto: Chris Kontos

Verleihen Sie auch an Ausstellungshäuser?
Ja, gerade kamen zwei Leihgaben für die Kunsthalle Bern zurück. Es ist für mich das ideale Szenario, mit all den Experten in Museen und Ausstellungshäusern zu arbeiten. Beinah hätte ich auch zusammen mit einer Institution eine große Ausstellung in Berlin auf die Beine gestellt, aber letztlich hat mich die Arbeit des Hauses nicht überzeugt. Helmut Lang selbst ist nicht interessiert an Ausstellungen und blockiert alles; er möchte als Künstler wahrgenommen werden.

Es wird also keine autorisierte Ausstellung geben?
Was wäre denn eine autorisierte Ausstellung? Lang hat seine Marke verkauft, und die Rechte auf all die alten Kampagnen hat das Unternehmen, dem heute die Marke gehört. Das aber besitzt kaum Kleidung aus der Zeit.

Ist Ihre Sammlung irgendwann "fertig"?
Gute Frage: Wann ist genug genug? Ich werde nie alles haben. Wir reden von einem Zeitraum von 20 Jahren, in jeder Saison wurden wohl mehr als tausend unterschiedliche Objekte hergestellt, wenn man Männer- und Frauenkollektion sowie Accessoires nimmt, und jedes Stück wurde noch in verschiedenen Farben produziert. Ich will von Endyma leben, aber es ist schwierig, weil ich süchtig nach den Sachen bin. Die meisten meiner Sachen haben ein Preisschild, aber häufig stehen da astronomische Summen drauf, so dass ein Verkauf mir nicht so wehtut.

Sie haben zu Ihren Sammlungsstücken fast ein Verhältnis wie zu Kunstobjekten.
Manche Sachen sind in den wenigen Jahren, in denen ich Endyma betreibe, um das fünf- bis zehnfache im Wert gestiegen, so wie es oft bei Kunstwerken geschieht. Ja, ich behandele die Stücke wie Kunstobjekte, ich habe so viel Zeit in die Restaurierung und Erforschung jedes Teils gesteckt. Ich trage auch keine Kleidung aus meiner Sammlung und wundere mich, wenn Kunden Sachen anprobieren wollen. Ich hatte lange Zeit gar keinen Spiegel hier.

Nur begleitet die Mode kein so elaborierter Diskurs wie die Kunst …
Manchmal fühle ich mich dumm, weil ich mein gesamtes Leben solchen oberflächlichen Dingen widme. Das Modesystem produziert immer neue Produkte für einen Kunden, der die nicht braucht, der aber mehr und mehr kauft. Denn das Versprechen der Mode ist dieses Mehr. Die Branche will immer Neues und der Mensch auch. Das ist natürlich überhaupt nicht nachhaltig. Mein Archiv ist der Versuch, die Pausetaste zu drücken und den Reichtum wertzuschätzen, der schon da ist. 

Endyma-Archiv in Athen
Foto: Chris Kontos
Endyma in Athen
Foto: Chris Kontos
Endyma in Athen
Foto: Chris Kontos
ENDYMA in Athen
Foto: Chris Kontos