Erdkunde mit Klaus Biesenbach

Der diesjährige Kunstmarkt in Basel hatte ein Doppelleben: Nachdem tagsüber Kunstobjekte von Ausstellern angeboten wurden, waren an drei Abenden vor dem ausverkauften Thea­terhaus Performances von bildenden Künstlern zu sehen. Darunter Douglas Gordon, Matthew Barney, Olafur Eliasson, Tino Sehgal und Dominque Gonzalez-Foerster, die herausragende Stücke konzipiert hatten. Unter dem Titel „Il Tempo del Postino“ wurden 20 dieser Abende ursprünglich vom Manchester International Festival 2007 produziert und gastierten dann in diesem Jahr zur Art Basel.


Nur einen Monat später ist es in Manchester wieder so weit: Das Manchester International Festival 2009, erneut unter der Federführung von Alex Poots und Hans-Ulrich Obrist, feiert Produktionen von internationalem Rang. Hoch subventioniert, wie das Festival ist, werden Arbeiten in Auftrag gegeben, die dann in Manchester ihre Uraufführung haben. Rufus Wainwrights Oper „Prima Donna“, Zaha Hadids installative Arbeit und Gustav Metzgers Stadtraumskulptur sind Höhepunkte dieses Jahres.


Antony Hegarty performt in beweglichen Licht- und Laserkonstruktionen mit vollem Orchester seinen grandiosen Abend „The Crying Light“. In seinen Bewegungen sind Anspielungen auf Björk, Maria Callas und Marina Abramovic zu erkennen. Die 1946 in Belgrad, Jugoslawien, geborene Abramovic´ ist selbst ein zentraler Impulsgeber bei diesem Festival. Sie hat das gesamte Museum, die lokale Whitworth Art Gallery, leer räumen, die Sammlung abhängen und im Lager deponieren lassen. Nun dürfen 200 Personen pro Tag ins Museum, wenn sie sich verpflichten, mindestens vier Stunden mit ihr in der Ausstellung zu bleiben.
Die erste Stunde ist wie ein Drill: Abramovic´ lässt die Besucher sich gegenseitig fünf Minuten in die Augen schauen, jeder muss einen kleinen Becher Wasser über den Zeitraum von zehn Minuten gleichmäßig verteilt austrinken. Mir kommt diese Zeit unerträglich lang vor. Abramovic´ macht die erste Stunde jeder dieser Sessions zu einer Studie darüber, wie man Körperrhythmen und -funktionen bewusster macht und sich an eine andere Geschwindigkeit gewöhnt. Danach gehen alle still und wie in Zeitlupe durch das Museum.


Die junge koreanische Künstlerin Eunhye Hwang liegt in einem der Ausstellungsräume auf dem Boden. Sie verdeckt drei kleine Transistorradios, die so eingestellt sind, dass sie laut das Rauschen spielen, das man zwischen zwei Sendern findet. Sie benutzt die Radios wie erotische Spielzeuge, wie Fetische, oder scheint sie ausbrüten zu wollen, sich bestrahlen zu lassen – oder sie zur Kontaktaufnahme mit dem Publikum zu verwenden.


Terence Koh liegt zusammengekauert im Eingang. Keine schlechte Pause für den Überproduzierer. Die aus China stammende Yingmei Duan steht in einem leicht abgedunkelten Raum und erfühlt ihren nackten Körper mit ihren Händen. Ihre Augen sind geschlossen, sie berührt ihre Scham und ihre Brüste. Sie stellt eine klischeehafte Frauenplastik nach, die ja meist von einem männlichen Bildhauer stammt, nur nimmt sie unseren Blick mit ihren Händen vorweg.


Verstört von dieser unerwarteten Intimität, nehme ich ein starkes und zu schnelles Glockenläuten wahr und folge ihm. Der junge Italiener Nico Vascellari hat einen Metallbrocken aus einer ausrangierten Kirchenglocke in den Händen und schlägt ihn mit ungebremster Gewalt auf einen Felsstein. Vier Stunden lang macht er diese Sklavenarbeit, an jedem der 18 Tage der Ausstellung. Ich zähle mehr als 25 Schläge in der Minute. Und muss an die zehn Minuten für mein Glas Wasser denken …

 

 

Klaus Biesenbach ist Chefkurator des Department of Media and
Performance Art am Museum of Modern Art in New York