Seit 1917 lebte Ernst Ludwig Kirchner in der Schweiz, in den Bergen oberhalb von Davos. Der Weltkrieg hatte ihn in eine schwere psychische Krise getrieben, aus der ihm ein Sanatoriumsaufenthalt im Taunus, vor allem aber viel Morphium herausgeholfen hat. Doch erst der Umzug in die Schweizer Berge verschaffte dem Expressionisten dauerhafte Besserung.
Sein Malstil änderte sich stark. An die Stelle der nervösen Pinselstriche seiner Berliner Jahre bis zum Kriegsbeginn 1914 traten flächige Formen und Farbfelder. Nur die Freiheit, reale Dinge und Personen in Farben nach eigenem Gusto darzustellen, behielt er bei.
Doch hatten sich seine Sujets gewandelt. Nicht mehr die halbseidene Szenerie rund um den Potsdamer Platz malte er, sondern Berge und Almbauern. Um 1924 legte er zwei Großformate an, 1 Meter 70 hoch und vier Meter breit, ein Format, das er zu seiner expressionistischen Hoch-Zeit nie angerührt hätte, widersprach es doch seiner impulsiven Malweise.
Schöpfer eines neuen, eigenen Stils
Der "Alpsonntag. Szene am Brunnen" und der "Sonntag der Bergbauern" zielten auf ein anderes Publikum als seine früheren Bilder. Kirchner wollte, wie so viele Künstler der 1920er-Jahre, ganze Wände füllen, in öffentlichen Bauten, sichtbar für jedermann. Doch es ergab sich nicht. Ein weit gediehenes Projekt, die Ausmalung des neu erbauten Essener Museum Folkwang, kam doch nicht zustande, und dann brach die Weltwirtschaftskrise herein, die jeden öffentlichen Auftrag zunichte machte.
In dieser Situation erhielt Kirchner die Gelegenheit, in der Kunsthalle Bern auszustellen, und noch dazu selbst zu bestimmen, was und wie er es zeigen wollte. Im März 1933 kam die Ausstellung zustande. Es war die einzige zu Lebzeiten in der Schweiz, und Kirchner, stets auf seine Außenwirkung bedacht, wusste die Gelegenheit zu nutzen und stellte sich als Schöpfer eines neuen, eigenen Stils dar.
Nun hat das Kunstmuseum in der schweizerischen Hauptstadt die Gelegenheit ergriffen, die damalige Ausstellung annähernd zu rekonstruieren. Das gelang, weil durch günstige Umstände das ansonsten im Kabinettssaal des deutschen Bundeskanzleramtes wandfüllende Gemälde des Bergbauern-Sonntags ausgeliehen werden konnte. Und nun erst- und einmalig seit 1933 mit seinem Pendant, der "Szene am Brunnen", vereint ist – die hatte sich das Kunstmuseum quasi aus der damaligen Ausstellung heraus für 16.000 Franken gesichert. So, wie Kirchner die beiden Großformate 1933 nebeneinander gehängt hatte, sind sie jetzt wieder zu bewundern, als Hauptwerke im Hauptsaal des Ausstellungsrundgangs in den ehrwürdigen Räumen des Kunstmuseums.
Wacher Beobachter der Kunstszene
Sein Frühwerk aus den Berliner Jahren und noch davor aus den Dresdner Anfängen der Künstlergemeinschaft "Brücke" wollte Kirchner nur im wenigen Beispielen zeigen. Immerhin die große Dresdner Straßenszene von 1910, die Kirchner wohl wegen ihrer eher flächigen Komposition damals auswählte, konnte jetzt ausgeliehen werden, aus dem New Yorker MoMA. Mit den zahlreichen Aktdarstellungen seiner wilden Berliner Jahre mochte Kirchner das konservative Schweizer Publikum hingegen nicht verschrecken.
Stattdessen führte er nun einen "Stil" vor, der stark an die Flächigkeit von Bildteppichen erinnerte, und in der Tat fällt in seine Davoser Zeit die Zusammenarbeit mit der Weberin Lise Gujer, die mehrere Vorlagen Kirchner als Teppich ausgeführt hat. Das Berliner Brücke-Museum hat die nach wie vor unterschätzte Lise Gujer unlängst gewürdigt.
Besonders war Kirchner an Tanzszenen interessiert, wobei er die schnelle Bewegung der Tanzenden in einer Art Simultandarstellung zu fassen suchte – Köpfe, die gleichzeitig nach links und rechts oder oben und unten gerichtet sind, Beine, die Pirouetten drehen. Kirchner war ein überaus wacher Beobachter der Kunstszene in Deutschland, und es liegt nahe, in seinen späten Bildern auch einen Reflex auf die Experimente am Bauhaus zu sehen, vor allem auf die Wandbilder und Tanzprojekte von Oskar Schlemmer.
Letzte große Positionsbestimmung des Künstlers
Kirchners Berner Ausstellung wurde bereits überschattet von dem katastrophalen Umbruch im heimischen Deutschland, der Machtübernahme der Nazis und der einsetzenden Verfemung, die zuallererst die Expressionisten traf. So wurde die Schweizer Schau vom März 1933 zur letzten großen Positionsbestimmung des Künstlers zu Lebzeiten. 1938 beging er Selbstmord, aus Angst vor dem immer mächtiger werdenden Faschismus.
Merkwürdig, dass dieses so sehr vom Künstler selbst bestimmte Unternehmen wenig Resonanz in der doch überbordenden Kirchner-Rezeption nach dem Zweiten Weltkrieg erfahren hat. So ist es weit mehr als eine lokalhistorische Erinnerung, wenn das Kunstmuseum Bern jetzt eine Annäherung an den Vorgänger von vor 92 Jahren wagt. Unter dem Titel "Kirchner x Kirchner" ist es beinahe eine vollgültige Rekonstruktion, die Kuratorin Nadine Franci da erarbeitet hat, zum einen die Identifizierung der 1933 gezeigten Werke und ihre genaue Lokalisierung in den einzelnen Sälen, zum anderen die Ausleihe der erreichbaren, nach 1933 in alle Welt verstreuten Originale.
Über das Spätwerk Kirchners, das bald nach 1920 einsetzt, gehen die Meinungen traditionell auseinander. Der Verlust der expressionistischen Spontaneität wiegt schwer. In Davos malte er zwar Landschaften, aber wollte nicht als Landschaftsmaler gelten, sondern stellte die menschliche Figur ins Zentrum. Immer wieder baute er Hinweise auf die Modernität seiner Zeit ein, sei es in Gestalt eines Automobils, sei es die neusachliche Architektur des Davoser Rathauses.
Dass Kirchner in Bern nun gerade mit zwei Szenen der zunehmend ins Archaische entrückten Lebenswelt der Bergbauern aufwartete, während er selbst an der Moderne regen Anteil nahm, gehört zu den Widersprüchen dieses Künstlers. Die Berner Ausstellung macht deutlich, wie Kirchner gesehen werden wollte – mit Sicherheit anders, als das heutige Publikum ihn schätzt.