Skulptur in Chemnitz

Erzengel

Erzengel
Illustration: Elisabeth Moch

Ein bronzener Engel in Lebensgröße, geschaffen von der Künstlerin Silke Rehberg, bekam 1997 eine dauerhafte Heimstätte in Chemnitz. Seither balanciert er an der Bahnhofstraße neben dem Moritzhof auf ­einer über acht Meter hohen Edelstahlsäule. Einen Dialog mit dem leger ­gekleideten Flügelwesen führte Michael Ostheimer

Entschuldigen Sie, dürfte ich Sie mal kurz etwas fragen? – Nur zu.

Seit zweieinhalb Jahrzehnten haben Sie nun schon Ihren Wohnsitz hier mitten in Chemnitz. Wie ist eigentlich Ihr Verhältnis zu der Stadt und ihren Bewohnern? – Existieren, heißt es, ist wahrgenommen werden. Und hier kommen ja reichlich Passanten vorbei. Die eine schaut, der andere kommentiert, und gelegentlich richtet auch mal jemand – wie Sie gerade – ein Wort an mich. Meinen Gedankenaustausch mit den Menschen hier vor Ort hat die Aufstellung der Skulptur von Silke Rehberg eindeutig beflügelt.

Sie sind also schon länger in dieser Umgebung? – Allerdings. Seit Anbeginn der Welt gleite ich durch Raum und Zeit. Und war schon vor 290 Millionen Jahren da, als hier in der Nähe ein Vulkan ausbrach. Den Versteinerten Wald, dessen Stämme als spätes Ergebnis des Vulkanausbruchs jetzt im Chemnitzer Museum für Naturkunde ausgestellt werden, den sah ich noch grünen.

Heißt das, Sie leben schon seit Urzeiten hier in der Gegend? – Exakt. Ich habe ein Faible für sanft gewelltes Hügelland. Irgendwann habe ich mich in die hiesige Landschaft verguckt, in die nach Norden flach abfallenden Ausläufer des Erzgebirges – und bin geblieben.

Wie haben Sie es dann aufgenommen, als man in der Innenstadt von Chemnitz ein Abbild von Ihnen aufgestellt hat? – Als Wertschätzung meiner gesamten Spezies. Zwar hängen wir Engel als geistige Geschöpfe nicht am Materiellen, aber wir wissen, dass die Menschen sich gerne ein Bild von uns machen.

Vorzugsweise sind es ja Künstler, die das Wesen und Wirken von Engeln in die sichtbare Realität überführen. – Genau. Etwa bildende Künstler wie Silke Rehberg. Oder Schriftsteller wie Stefan Heym, der in Chemnitz geborene Ehrenbürger der Stadt, in dessen Roman "Ahasver" die Hauptfigur ein Engel ist. Der mal etwas sagt, was ganz meiner Langzeitlebenserfahrung entspricht: "Alles ist veränderbar."

Sie scheinen sehr kulturinteressiert zu sein. – Ich bin ein Geistwesen, also ist Kultur mein Lebenselixier. Jegliche Kultur entspringt schließlich dem Geist – und dient seiner Verfeinerung.

Wie finden Sie es dann, dass Chemnitz 2025 Kulturhauptstadt Europas wird? – Da lässt sich was draus machen. Vor allem bei dem Motto: "C the Unseen". Sieh das Ungesehene, das auf C wie Chemnitz hört. Für ein körperloses Wesen wie mich, an dessen Existenz einige beharrlich zweifeln, könnte das Motto nicht treffender sein: Augen auf fürs Ungesehene!

Das heißt, Sie fassen das Motto auch als Einladung an die Bevölkerung auf, sich mit Ihnen, einer rein geistigen Präsenz, in Verbindung zu setzen? – Auf jeden Fall! Die Wirklichkeit ist mehr als das Sichtbare. Und die Menschen als körperlich-geistige Wesen haben ja zu beiden Sphären Zugang. Frei heraus­gesagt: Jeder kann jederzeit zu mir Kontakt aufnehmen. Er braucht nur zu schauen, und zwar in den Himmel über Chemnitz: "C the Unseen".

Eins noch: Mit wem spreche ich eigentlich? Haben Sie einen Namen? – Einen Spitznamen. Den mochte ich aufgrund des ironischen Untertons am Anfang nicht, inzwischen habe ich mich an ihn gewöhnt. Meine Mitengel nennen mich – wegen des Erzgebirges und der in Chemnitz aufgestellten Bronzeskulptur – gerne "Erzengel". Tschüss und vielen Dank für das Gespräch. – Gerne. Bis denn.