Essay zum ungeübten Blick

Mit soften Augen im Museum

Museen sind Orte, die verwirren können und Geübtsein voraussetzen. Die Schriftstellerin Enis Maci will üben. In der Ausstellung "Surprize" in der Kunsthalle Düsseldorf nähert sie sich den Rückseiten der Rückseiten und der Politik des frischen Blicks 

 

Rheinländische Etüde
 

Unbeständiger Himmel, rasende Wolken. Samstagmorgen vor der Düsseldorfer Kunsthalle.

Worum geht es in den Museen?

Vielleicht: Um die Rückseite der Rückseite, um den Zellzwischenraum, die Freundschaft, den Protest. Um die Baugerüste der Potemkinschen Dörfer, die wir bewohnen.

Obwohl es hier also um die künstlerische Ermittlungsarbeit im Allgemeinen geht, obwohl es hier also eigentlich um den Versuch als Verfahren geht, um Sachen, die mich interessieren, bin ich im Museum trotzdem oft: verwirrt.

Dorothee Elmiger schreibt von Detective Bunk Moreland, der in Baltimore aus seinem Wagen steigt "und sagt, was es brauche am Tatort, seien vor allem weiche, seien sanfte Augen. 'Soft eyes', sagt er: 'You got soft eyes you can see the whole thing'.“

Das ungeübte Auge in einer Umgebung, die das Geübtsein voraussetzt.

Heute morgen übe ich. 

Tatort. Täter. Verbrechen.

Die übereinander montierten Fotos des Tempels der Hatschepsut von Donja Nasseri tragen den Titel "Woman who would be king". Sie sind wie eine Handbreit verschoben. Das Auge will vermuten: Etwas, das auf den älteren, körnigeren Aufnahmen abgebildet ist, sei auf den neueren verschwunden. Ich denke mich zuerst auf den Holzweg, auf Weggesprengtes zu, auf Bilderstürme und Bärte. Verschwunden war aber vielmehr Hatschepsuts Pharaoinnenschaft aus den antiken Aufzeichnungen, und sie, zur bloßen Gattin degradierte Gottkaiserin, war jahrtausendelang fort, obwohl sie einmal vorhanden gewesen ist.

Maria Stepanova schreibt: "Die Gegenwart ist sich ihrer Besitzrechte an der Vergangenheit so sicher, wie man einst der Herrschaft über beide Indien sicher war, ohne viel über sie zu wissen. Die Gespenster, die über die Staatsgrenzen hin und her wandern, bemerkt sie kaum."

Weiterlaufen, weiterüben.

Die naiven Zeichnungen von Elefanten auf einzelnen gelben Paneelen der eigentlich blauen, algenartigen Installation "Sturz vom Einmeterbrett" von Fynn Ribbeck, die Elefanten, die eigentlich Höhlenmalereien sind, eingebettet in Meeresflora, Cyberplankton – Wie wird eine Sache eigentlich zum Symbol, wie eine Metapher paradigmatisch? Ist das wirklich ein Prozess, der vom Kapital, von Trends handelt? Oder liegt es an der Welt, die wir gemeinsam bewohnen? Die uns, egal wo wir anfangen, egal wie sehr unsere Wege abweichen, an einigen geheimen Stellen zusammenkommen lässt?

Knollenblätterpilze am schattigen Rand einer Lichtung.

Manchmal ist eine Überlegung so wahr wie ihr Gegenteil.

Ich betrachte Ribbecks Arbeiten und denke: Das ist doch ein Bühnenbild. Diese Stickerei ist ein Kostümmodell. Und heißt "Rig I/II".

to rig sth: etwas ausstatten, auftakeln, zusammenbasteln, improvisieren, fälschen, manipulieren

Und als ich dann seinen Animationsfilm "Erratic Fictionanschaue, verstehe ich endlich, dass all diese Sachen, die Ribbeck hergestellt hat, Artefakte sein könnten, aus dem Filmuniversum geborgen wie von einem versunkenen Kontinent.

Bei Pascal Richmann heißt es: "Das Material schreibt sich ein oder wird eingeschrieben."

Was ist Material? Die Fragen nach den Gesteinsschichten, nach den Extraktionsverfahren, den Rohstoffen; die Fragen nach der Weichheit, der Frische des Blicks, sie entpuppen sich bei näherer Betrachtung als genuin politische.

Weiterüben, weiterlaufen.

In einem Schaukasten die Abbildung einer älteren Arbeit Nils Bleibtreus: "Empty Drains". Blaue Rohre, ein riesiger Darm; dabei sind das ja auch genau die Rohre, durch die sonst das Abwasser fließt. "Hol alles aus den Schläuchen", schlägt Doc Snyder in "Texas" vor. Ein besserer Vorschlag ist mir noch nicht untergekommen.

Bleibtreu wiedereröffnet das schwarze Loch Beuys’ als Portal. Kürzlich noch zugedeckt, ist dieses Loch nach wie vor mit einem Kaminrohr an der Außenfassade der Kunsthalle verbunden. Hält man sein Ohr daran, hört man die Stadt. Ein periodisch wiederkehrendes Ritual, denn Bleibtreu ist nicht der erste, der den Schorf von dieser Wunde kratzt. Und es ist ja eine Wunde, diese anthroposophische Sülze. In meinem ans Loch gehefteten Ohr rauscht der Odem der staubgewordenen Einzeller, ein motorengetriebener Ozean, mein Blut.

Ich höre außerdem: die Aktivisten einer sozialliberalen Kleinstpartei.

Europa einig Vaterland. Die Wiedereröffnung der Tore und Portale. Das faschistoide Beschwören der Bedeutungslosigkeit der Begriffe Links und Rechts, der Sirenengesang, der vom Schrecken ohne Ende kündet. Das Ohr vom Schlund reißen.

Wie wollen wir leben, lieben, arbeiten, nachdenken, uns einbringen ins kosmische Gedächtnis?

Die Aktivistinnen vor dem Museum; der sich am Politischen vergehende, seiner eigenen Ideale tragischerweise entkleidete Liberalismus, der am ehesten noch einer sich selbst verschlingenden Schlange gleicht: Sie haben die falschen Antworten auf diese Frage.

Wir können nicht über das große WIE sprechen, ohne uns mit dem Material vertraut zu machen.

Neben dem Loch ein blauer Block aus Harz und Glasfilament: "The anti Years". Ich denke an die konservierten Insekten im "Jurassic Park". An die Automobilindustrie, an die Heimwerker, an die unter UV-Lampen gehärteten Gellacke, die Fingerspitzen der Arbeiterinnen, an die Kaiserinnen der Qing-Dynastie, die nie einen Finger heben mussten. Ich denke an Faserkabel, Internet, Zellfilamente, den Spindelapparat. An Garn.

An den Fäden ziehen, aus denen die Dinge gemacht sind.

Bleibtreus zentrale Installation, ein Holzskelett mit daran befestigten Malerplanen, bitumengepickt. Der Teer, auf dem wir gehen. Das in den Stoff Gesickerte, das sich selbst Erzählende.

Diejenige Realität sichtbar machen, von der man umgeben ist, die aber jeder Beschreibung harrt. Es geht schon wieder ums große Dings, das Dritte, die Sache. Im Theater heißt das: das dramatische Feld.

Weiterlaufen. "25 Mark (Easy Rider)", blau, rosa, weiß; natürlich ist da ein Horizont, ist da Licht, ist da Land. Keine Symbole machen wollen, trotzdem: Symbole machen, drauf scheißen. Weiterüben. Ekel, grün, grau; ich denke selbstverständlich an Eisenoxid, an die Patina der Freiheitsstatue, an das bessere Leben abseits der Lüge von ihm.

"I will pay you sometime…" hat keine Vorderseite und keine Rückseite beziehungsweise ist bloß Vorderseite beziehungsweise ist bloß Rückseite. Wie jedes Museum ja eigentlich eine Rückseite ist.

Olga Tokarczuk schreibt: "Es müsste des Gleichgewichts halber noch eine andere Wissenssammlung geben, von dem, was wir nicht wissen, wie ein Rock und seine linke Seite, sein Innenfutter, von keinem Inhaltsverzeichnis zu erfassen, keiner Suchmaschine zugänglich, ihres ungeheuren Umfangs wegen findet der Fuß keinen Halt an den Worten, sondern man setzt die Füße zwischen die Worte, in die abgrundtiefen Schlünde zwischen den Begriffen."

Auf der Vorderseite: passieren ganz normale Dinge.

Auf die Rückseite: glotze ich.