Hartz IV und die Kreativindustrie

Etwas Wichtigeres als Erwerbsarbeit

Viele Künstler und Kreative leben in prekären Verhältnissen, nicht wenige von und mit Hartz IV. Monopol-Kolumnistin Anne Waak hat für ihr neues Buch „Hartz IV und wir - Protokolle“ mit Menschen gesprochen, die sich mit dem Arbeitslosengeld II die Freiheit verschaffen, sich Dingen zu widmen, die ihnen wichtiger sind als die Erwerbsarbeit. Ein Auszug aus dem Vorwort

Laut der letzten Erhebung des Statistischen Bundesamtes lebten im Jahr 2012 durchschnittlich 4,5 Millionen Menschen von Hartz IV. Allein in Berlin bekam nahezu jeder Fünfte die sogenannten Mindestsicherungsleistungen in Höhe von derzeit 391 Euro, zuzüglich Wohnkostenbeihilfe und Krankenkassenbeiträgen. Dennoch wird Hartz IV nach wie vor als etwas wahrgenommen, das fast ausschließlich die schlecht ausgebildete, tendenziell als verwahrlost geltende Unterschicht betrifft. In Wirklichkeit arbeiten jedoch auch bildende Künstler und Kreative in prekären Verhältnissen. Und viele von ihnen leben von und mit Hartz IV.

Am vor knapp zehn Jahren, im Januar 2005, eingeführten Arbeitslosengeld II (so sein offizieller Name) zeigen sich einige der größten Probleme unserer Zeit: die fortschreitende Liberalisierung des Arbeitsmarktes, die Angst der Mittelschicht vor dem sozialen Abstieg, Löhne, die zu niedrig sind, als dass irgendjemand von ihnen leben könnte. Und die deswegen entweder mit einem zweiten Job oder eben mit staatlichen Transferleistungen aufgestockt werden müssen.

Kreativität gilt als der Rohstoff des 21. Jahrhunderts, die sogenannte kreative Klasse als bedeutender Wirtschaftsfaktor, Kultur als Zukunftsbranche. Mit ihrem Hang zu Solo-Selbständigkeit und flexiblen räumlichen und zeitlichen Strukturen gelten Kreative als Avantgarde der Arbeitswelt. In Berlin gilt das in besonderem Maße.

Wir nennen es Arbeit - oder Selbstausbeutung

»Wir nennen es Arbeit« hieß Holm Friebes und Sascha Lobos 2006 erschienenes Buch, in dem sie »die Digitale Bohéme« und ein »intelligentes Leben jenseits der Festanstellung« feierten. Einen Aspekt jedoch lassen sie dabei fast vollständig unterbelichtet: Die hohe Qualifikation und die kulturell-ökonomische Bedeutung der Kreativarbeiter steht in starkem Kontrast zu ihrem zumeist geringen Einkommen. Die Künstlersozialkasse verzeichnet für das Jahr 2013 deutschlandweit knapp 180.000 Versicherte. Diese verfügen laut der letzten Erhebung Anfang 2013 im Bundesdurchschnitt über ein Jahreseinkommen von knapp 12.000 Euro. Und je länger die Selbstausbeutung anhält, desto größer wird die Gefahr, im Alter so richtig arm zu sein. Wem sein Verdienst nicht zum Leben reicht, dem bleibt der Antrag auf ALG II – auf die Gefahr hin, vom Jobcenter wieder zum passgerechten Arbeitnehmer zurechtgestutzt zu werden. Das kontinuierliche Nachweisen der Bedürftigkeit stellt fast einen eigenen, im besten Fall nur freudlosen, im schlechtesten Fall zermürbenden Job dar. Die angebotenen Qualifizierungsmaßnahmen werden von den Betroffenen meist als sinnloser Selbstzweck empfunden.

Ein Schlagwort fällt häufig, wenn es um unseren Umgang mit Arbeit, ihren Wert und dem Problem Hartz IV geht: das bedingungslose Grundeinkommen. Es steht für die Hoffnung auf etwas Besseres und Größeres als Hartz IV – eine Lösung, die einen gesamtgesellschaftlichen Wandel schafft.

Die Idee hinter dem BGE lautet, jedem Bürger ohne Gegenleistung die gleiche, gesetzlich festgelegte Geldsumme von beispielsweise 1000 Euro zukommen zu lassen. Niemand, so die Überlegung, müsste dann noch den Großteil seiner wachen Zeit in einen mehr oder weniger ungeliebten, fremdbestimmten und unterbezahlten Job stecken, um mit dem Schmerzensgeld seinen Lebensunterhalt zu bestreiten. Die Leute könnten sich, so die Hoffnung, dem zuwenden, was ihnen sinnvoll und wichtig erscheint. Für einige wäre das bezahlte Arbeit, mithilfe derer sie ihren individuellen finanziellen Mehrbedarf decken. Für andere die Verwirklichung der eigenen Ideen, die dann nicht zwingend einen geldwerten Vorteil erbringen müssen. Wieder andere werden sich der Pflege alter Menschen widmen oder der Kinderbetreuung – der ihres eigenen Nachwuchses oder dem von Freunden und Familienangehörigen. Aktuelle Probleme wie Burn-out, knappe Kita-Plätze und in Heime abgeschobene Alte, lösten sich in diesem Szenario praktisch von selbst. Finanziert würde das BGE durch Steuern und die Gelder, die heute für Sozialleistungen und die Verwaltung der entsprechenden Ämter und Institutionen wie dem Jobcenter verwendet werden.

Ökonom Keynes als Vordenker

Im Jahr 1930, inmitten der Großen Depression, veröffentlichte der britische Ökonom und Politiker John Maynard Keynes einen Essay mit dem Titel »Economic Possibilities for our Grandchildren«. In diesem skizzierte er den sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts deutlich verbesserten Lebensstandard in Europa und den USA. Keynes bezifferte die weltweite Wachstumsrate des Pro-Kopf-Einkommens auf jährlich zwei Prozent und kam zu folgendem Schluss: »Ich prognostiziere, dass der Lebensstandard in entwickelten Ländern in 100 Jahren zwischen vier und acht Mal höher sein wird, als er es heute ist.« Sei das ökonomische Problem des Mangels erst einmal gelöst, habe sich die Menschheit auch ihrer grundlegendsten Sorge entledigt: der Kampf um den Lebensunterhalt.

Womit sie allerdings vor ganz neuen Schwierigkeiten stehe. Denn die Aussichten, so Keynes, seien nichts als deprimierend, wenn man davon ausginge, wie die wohlhabenden Klassen überall auf der Welt mit ihrem von Freizeit und Überfluss geprägten Leben umgingen. »Für diejenigen, die für ihr täglich Brot schwitzen müssen, ist Freizeit eine lang ersehnte Süßigkeit – bis sie sie bekommen.« Wir seien so an die Arbeit gewöhnt, dass wir sie trotz Wohlstandes noch bräuchten, um zufrieden zu sein. »Drei-Stunden-Schichten oder die 15-Stunden-Woche sollten das Problem für eine Weile lösen.« Sobald die Anhäufung von Reichtum keine soziale Rolle mehr spiele, würde sich auch die Moral verändern, so seine Prognose. »Die Liebe zum Geld als reinem Besitztum – im Gegensatz zu der Liebe zum Geld als einem Mittel für die Freuden des Lebens – wird als das erkannt werden, was sie ist: eine abstoßende Krankheit.«

"Wir brauchen eine echte Vision einer besseren Gesellschaft"

82 Jahre nachdem Keynes’ Schrift erschienen war, im September 2012, unterzog der australische Ökonom John Quiggin die optimistischen Thesen seines Kollegen einer Revision. In seinem Artikel »The Golden Age« fragt Quiggin nach der Wahrscheinlichkeit, mit der aus Keynes’ Vision heute Wirklichkeit werden könnte. Seiner Meinung nach gibt es keinen Grund, eine Entwicklung in Richtung einer weniger vom Geld getriebenen Gesellschaft zu erwarten, solange der Wirtschaftsliberalismus regiert. »Wir brauchen eine echte Vision einer besseren Gesellschaft.« Denn von einer Post-Mangel-Gesellschaft seien wir weit entfernt. Dabei liegt die Einkommens-Wachstumsrate aktuell sogar bei drei statt bei den von Keynes prognostizierten zwei Prozent. Es gibt mehr reiche und übergewichtige Menschen als arme und unterernährte. Die Kapazitäten in der Produktion sind so beschaffen, dass niemand mehr arm sein müsste.

Die notwendige Herstellung von Marktgütern und die Bereitstellung von Dienstleistungen müsste, so Quiggin, dermaßen erfreulich beschaffen sein, dass diejenigen, die diese Arbeiten verrichten, gewillt sind, auch jene zu unterstützen, die sich dazu nicht in der Lage sehen oder schlicht nicht dazu in der Stimmung sind.

Weiterhin müsste verhindert werden, dass das Grundeinkommen zu einer Trägheit führt, die schnell in Verzweiflung umschlagen kann. Das könne durch freiwillig geleistete Arbeit verhindert werden, wahlweise auf dem Gebiet der Kultur oder des Sports. (Soziale Tätigkeiten erwähnt er eigenartiger Weise nicht.) »Wir haben die technologischen Möglichkeiten, diesen Weg zu gehen und das Ziel innerhalb der Lebenszeit unserer Enkel zu erreichen«, schließt Quiggin und verschiebt damit die Realisierung von Keynes’ Vision um weitere zwei Generationen in die Zukunft.

Zeit für das Leben abseits des Geldverdienens

Dabei gibt es Menschen, die auf diesem Weg schon einmal vorangegangen sind. Für mein Buch »Hartz IV und wir – Protokolle« habe ich mit einem Dutzend von ihnen gesprochen: Musiker, Modedesignerinnen, Philosophen, Schauspielerinnen, Programmierer, Regisseurinnen und Teilzeit-Drogendealer. Sie haben sich mit Hartz IV die Freiheit verschafft, sich Dingen zu widmen, die ihnen wichtiger sind als Erwerbsarbeit. Sie haben sich gegen Konzernkarrieren entschieden und sind nicht bereit, ihr Leben dem Job zu opfern. Sie wollen so arbeiten, dass ihnen genügend Zeit für das Leben abseits des Geldverdienens bleibt. Und manchmal wollen und können sie entgegen aller herrschenden neoliberalen Funktionsgebote für einen gewissen Zeitraum auch gar nicht arbeiten.

Da ist zum Beispiel Patrick Wagner. Der Kopf der konzeptuellen Rockband Surrogat gründet Ende der Neunziger Jahre zusammen mit einem Kompagnon das Plattenlabel »Kitty-yo«, das mit Musikern wie Peaches und Gonzales internationale Bekanntheit erlangt. Nach einem Richtungsstreit verlässt Wagner »Kitty-yo« und geht für ein Jahr als Manager zum Major »Universal«. Anschließend gründet er zusammen mit seiner Frau Yvonne das Indie-Label »Louisville«, benannt nach dem gemeinsamen Sohn. Das Unternehmen geht nach fünf Jahren pleite, die Ehe zerbricht. Wagner lebt seitdem ziemlich glücklich von gelegentlichen Beraterjobs und Hartz IV. Mittlerweile hat er, unterstützt vom Jobcenter, einen integrativen Kinderfußballverein gegründet. Er sagt: »Ich behandle meinen Antrag einfach wie ein Projekt, das mir aufs halbe Jahr gesehen 10.000 Euro bringt. Dann geht’s.«

Hartz IV als mangelhafte Vorstufe für ein bedingungsloses Einkommen

In der Schweiz und in Namibia etwa gibt es bereits Initiativen für die Einführung eines BGE. Bis sich auch hierzulande etwas tut, mag es noch dauern. Bleibt einstweilen Hartz IV. Es stellt bei weitem kein bedingungsloses Einkommen dar, höchstens eine sehr mangelhafte Vorstufe – mit zahlreichen Problemen.

So, wie sie leben oder eine Zeit lang gelebt haben, erinnern die Protagonisten meines Buches an eine Romanfigur Astrid Lindgrens: Karlsson vom Dach.

Karlsson ist halb Kind, halb Erwachsener und, wie er sagt, »in den allerbesten Jahren«. Er verbringt seine Zeit damit zu malen, Unruhe zu stiften und vor dem Abendhimmel zu tanzen. In einer Zeit voller fantasieloser Kinder wird er einem Jungen mit Fantasie und dem Willen, Fleischbällchen und Zimtschnecken mit ihm zu teilen, ein Freund. Karlssons herausstechendstes Merkmal ist der kleine, bei Bedarf ausklappbare Propeller auf seinem Rücken, mit dem er sich durch die Welt bewegt.

Wie er seinen manchmal stotternden Abtrieb, benutzen heute gar nicht so wenige Künstler und Kreative Hartz IV mal mehr, mal weniger erfolgreich dazu, ein Stück zu fliegen.