Kino-Doku "Face It!"

Die Kunst schwafelt, die Konzerne schaffen Fakten

Für ein lustiges Foto mit der FaceApp werfen wir munter unsere Daten umher. Aber was bedeutet unser Gesicht in digitalen Zeiten? Der Film "Face It!" will es herausfinden - setzt aber an der falschen Stelle an  

Was passiert, wenn das deutsche Innenministerium am Bahnhof Berlin-Südkreuz mit freiwilligen Probanden Computerprogramme testet, die sich ihre Gesichter in der Menschenmenge einprägen können? Der Feldversuch 2018 zeigte: Ein kleines Häuflein Aktivisten protestiert gegen die Verletzung ihrer Privatsphäre. Der vorbeieilende Rest weiß noch nicht mal, dass es je eine besessen hatte. 

Zumindest ist auf einen wie den Regisseur Gerd Conradt Verlass. Der Videopionier studierte bis 1968 an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (dffb) und gehörte zu den 17 Studenten, die wegen politischer Aufmüpfigkeit ausgeschlossen wurden. Als Kameramann drehte er mit Harun Farocki und beschäftigte sich in den 80ern filmisch mit dem RAF-Mitglied Holger Meins, der sein Kommilitone war. Er reiste nach Indien, um den Ashram in Poona zu besuchen, porträtierte Gretchen Dutschke und schrieb Zeitungsartikel mit Titeln wie "Rote Fahne, gelbe Krawatte". 

Was sich nach der prototypischen Biographie eines 68ers anhört, schlägt sich auch in der spröden Ästhetik seiner neuesten Dokumentation "Face It!" nieder, die sich mit dem Gesicht im digitalen Zeitalter beschäftigt. Diese versucht Conradt vergeblich mit auf Smartphone gedrehtem Selfie-Material aufzulockern, oder mit immer wieder auftauchenden Aufnahmen, die auf den wechselnden Gesichtsausdruck von Menschen aller Altersstufen fokussieren. Dass die Gesprächsführung reichlich Geduld für die unterschiedlichen Reflexions-Geschwindigkeiten der Befragten zeigt, ist dramaturgisch ebenfalls nicht hilfreich. Die Auswahl der Protagonisten aber gehorcht immerhin dem Wunsch nach Ausgewogenheit.

Der warnende Sound der 80er

Was bringt also die digitale Vermessung von allem? Padeluun, Künstler, Netzaktivist und einer der Protagonisten in Jürgen Teipels Roman "Verschwende Deine Jugend", darf in Erinnerungen an seine frühen, von der Polizei abgebrochenen Performances schwelgen und seine Abneigung gegen jede Art von Datenspeicherung zum Besten geben. Diesen vor dem Überwachungsstaat ausdauernd warnenden Sound der 80er durchkreuzt Dorothee Bär, Staatsministerin für Digitalisierung, mit dem Vorwurf der Bigotterie. So lange man online beinahe täglich Informationen über sich preisgibt, müsse man sich nicht wundern, dass Staat, Geheimdienste und Konzerne erfreut zugreifen. Außerdem lägen die Vorteile für eine schnellere Abfertigung am Flughafen oder die Vereitelung von Terroranschlägen auf der Hand.

Künstler Julius von Bismarck zeigt sich ähnlich technikaffin. Die Bewegung durch die immaterielle Welt des Digitalen sei für ihn selbstverständlich, was ihn aber nicht vor Fatalismus schützt, denn die Entwicklung lasse sich nicht mehr zurückdrehen, das Speichern nicht abstellen. Hinterfragen sollte man dennoch, für welche Zwecke die Datenflut verwendet werde.

Wenn der Leuchtturm zurücklächelt

Auch künstlerisch hinterlässt das Thema Spuren. 2008 etwa stattete von Bismarck die Spitze eines Leuchtturms mit einem Stahl-Smiley aus. Eine Kamera filmte die Gesichter der Passanten, die auf die Erscheinung am Himmel reagierten, während ein Maschine-Learning-Programm ihre Mimik "las" und die Smile-Botschaft an das analoge Emoji sendete. Das Experiment mit dem "Fühlometer" war nicht ohne doppelten Boden zu haben. Der eine Teil der Gefilmten amüsierte sich sorglos über das kostenlose "Event". Dem anderen Teil, der seine Wut nicht verbarg, ging ein Licht auf: Wenn meine Emotionen biometrisch ausgelesen werden können, lassen sie sich auch zu meiner Kontrolle manipulieren? Und wem genau nützt ein zum Zahlencode degradiertes Gesicht?

Für Sigrid Weigel, Kulturwissenschaftlerin und Kuratorin der Ausstellung "Das Gesicht – eine Spurensuche" im Dresdner Hygienemuseum, geht dieser Alarmismus zu weit. Ohnehin sei es eine Illusion, "die Algorithmen alles erledigen zu lassen" und sie zu einem Allheilmittel für Probleme zu erklären, die sich nur politisch lösen lassen. Ein FACS-Coder wie Holger Kunzmann gibt sich ebenfalls gelassen. Er sieht in seinem Job eine Dienstleistung und in dem Gesicht lediglich einen Fingerabdruck, den es anhand des "Facial Action Coding Systems" des amerikanischen Psychologen Paul Ekman zu entschlüsseln gilt.

Rührend ratloser Essay

Peter Weibel, Künstler und Leiter des ZKM in Karlsruhe, bekommt seinen Musik-Clip "Wir sind Daten" von 2013 vorgespielt, um sich im Anschluss in kulturhistorischen Exkursen zu ergehen, die sich meilenweit von den eigentlichen Herausforderungen entfernen. Mensch und Maschine stoßen in diesem rührend ratlosem Essay an ihre Grenzen. Das gilt leider auch für den Regisseur, denn während er noch über die potentiellen Möglichkeiten des Missbrauchs sinniert, schaffen die US-Tech-Konzerne Fakten.

Amazon etwa verkaufte seine Gesichtserkennungs-Software an die umstrittene US-Einwanderungsbehörde ICE, die sie an der Grenze zu Mexiko einsetzte. Oder Google, das einen Vertrag mit dem US-Militär über den Einsatz von KI bei der Auswertung von Drohnenbildern erst auf Druck der eigenen Mitarbeiter löste. Längst ist der Gesetzgeber gefragt, um eine weitere Expansion von Big Brother zu unterbinden und jedem die Chance zu geben, über die Analyse seiner Daten selbst zu entscheiden.

Deutschland? Keine Angabe

Eigentlich ein Menschenrecht, von dem Chinesen nur träumen können. Bis 2020 wird es in dem Land 600 Millionen Überwachungskameras geben. Selbst in öffentlichen Toiletten kommen bereits Gesichtsscanner zum Einsatz. An diesem Punkt hätte "Face It!" ansetzen sollen. Dann hätte man vielleicht auch erfahren, wie es zurzeit in Deutschland mit Regeln für Tech-Unternehmen im Überwachungssegment steht?