Performances in Wien

Küss mich!

Für sein Performance-Festival leiht sich Thomas Geiger Ideen von Künstlerkollegen aus, zum Beispiel zum Thema Küssen. Es gibt Busserl für ein Wiener Monument, durch eine Glasscheibe und per Videochat. Im Licht der Pandemie und dem Streit um Denkmäler entwickeln die alten Performances eine ganz neue Wirkung

Viel Charme versprüht der Reumannplatz im Bezirk Wien-Favoriten eigentlich nicht, seit knapp einem Jahr wird er umgestaltet. Doch mit seinem "Festival of Minimal Actions", für das noch bis Sonntag täglich öffentliche Performances stattfinden, bringt der Künstler Thomas Geiger eine gehörige Portion Romantik auf die Dauerbaustelle.

Die Mini-Aktionen hat Geiger sich nicht selbst ausgedacht, sondern sozusagen ausgeliehen. 19 Künstlerinnen und Künstler stehen auf seinem "Festival Lineup" und wissen darüber Bescheid, dass Geiger ihre Ideen in Wien neu aufleben lassen will. Dazu gehört auch "Eure Charlotte", eine Arbeit aus der Diplomausstellung der Künstlerin Charlotte Seidel. In der Performance aus dem Jahr 2007 küsst sie beide Protagonisten des bekannten Goethe-Schiller-Denkmals vor dem Deutschen Nationaltheater in Weimar auf den Mund.

In Wien küsst Thomas Geiger stattdessen Jakob Reumann (1853 - 1929), den ehemaligen Bürgermeister von Wien und Namensgeber von Geigers Bühne, dem Reumannplatz. Eine Geste der Zärtlichkeit, die im Spiegel der aktuellen Debatte um Denkmäler doch ein wenig bizarr aussieht. Vielleicht ist es eine kleine Liebeserklärung an die Repräsentanten der Geschichte, an die man sich weiterhin gerne erinnert. Oder doch eine Demonstration der Dominanz über einst mächtige Figuren, die heute nicht länger handlungsfähig sind. Bereits Charlotte Seidel schrieb in ihrer Diplomarbeit zu der Performance: "Ich nutze die Wehrlosigkeit". Ob Geiger mit seinem Busserl für Reumann überhaupt ein wertendes oder politisches Statement machen will, darüber, welche Vergangenheit wir mit Denkmälern im öffentlichen Raum würdigen, bleibt offen.

Ist ein Kuss durch eine Glasscheibe immer noch ein Kuss?

Andere Arbeiten beschäftigen sich mit körperlicher Nähe und Distanz. Für die Wiederaufführung von Jiří Kovandas "Kissing through glass" (2007) bittet Geiger Passanten um einen Kuss durch eine Plexiglasscheibe, und für Annie Abrahams‘ "The Big Kiss" (2008) wird weitergeknutscht, diesmal per Videochat. Bei der Wiedererweckung von Yann Vandermes "Faire Semblant" (2015, dt. "vorgeben, etwas zu tun") kommt es gar nicht erst zur romantischen Interaktion - mit Blumenstrauß in der Hand wartet der Künstler am U-Bahnhof auf ein vermeintliches Rendezvous, das nie erscheint. Die neu gefundene Schlagkraft ihrer Werke in Zeiten einer globalen Pandemie konnten die Urheber wohl kaum vorhersagen. Wie verändert sich unsere Wahrnehmung von Zuneigung, Intimität und Romantik, wenn körperliche Nähe unterbrochen wird oder völlig fehlt? Ist ein Kuss durch eine Glasscheibe immer noch ein Kuss?

Nicht alle Performances in Wien haben mit dem Küssen zu tun, doch geht es stets um Themen wie Kontakt, Berührung und Kommunikation. Indem er existierende künstlerische Aktionen wiederholt, will Thomas Geiger kurzweilige Momente lebendig halten. Gleichzeitig stößt er damit eine Diskussion über Autorenschaft, Zugänglichkeit und Reproduzierbarkeit an, denn in seinen zeitgemäßen Neuinterpretationen entwickeln die ursprünglichen Werke automatisch ein Eigenleben. Das liegt einerseits an performativen Schwerpunkten, die der Künstler aktiv setzt, aber auch an den unterschiedlichen zeitlichen, sozialen und politischen Kontexten der originalen und neuen Aktionen. Schlimmstenfalls gehen so wichtige Nuancen der Original-Idee verloren, bestenfalls kann ein ganz neues Publikum die Arbeit plötzlich wertschätzen.

Thomas Geigers Festival hat bereits drei Mal stattgefunden, zunächst in Brüssel (2014), dann in Paris (2015) und San José (2018). Die vierte Edition des "Festival of Minimal Actions" in Wien-Favoriten ist Teil der Ausstellungsreihe "Kiss" der Kunsthalle Wien, die noch bis September künstlerische Beiträge rund ums Küssen präsentiert.