Einen Tag, bevor ich loszog, um Karen Archeys Ausstellung "The Shed" bei Croy Nielsen in Wien anzusehen, hatte ich einen Nachmittag frei. Jeden Herbst laden 24 Wiener Galerien internationale Kuratorinnen und Kuratoren zum Festival Curated by ein, um mit einer Ausstellung auf ein jährlich wechselndes Thema zu reagieren.
Auch ich war von der Galerie Exile eingeladen worden, um die Schau einer alten Freundin zu kuratieren. Alles war fertig. Und ich hatte Zeit. Und so tat ich das, was man in Wien so tut: Ich ging ins Museum Leopold, um mir Schiele, Klimt, die okkulte Wiener Moderne anzusehen, Möbel, Gläser, Silber, Keramiken der Wiener Werkstätten, Hinterglasmalereien, Reformkleider. Und ein mit schwarzen Linien und Ornamenten verziertes Schlafzimmer, das Joseph Hofmann 1902 für die Tochter des Fabrikanten Max Biach entwarf und das an Kubricks "2001 – Odyssee im Weltraum" erinnert.
Draußen flimmerte der letzte heiße Sommertag. Die Leute hingen im Schatten. Also ging ich über den kaum bevölkerten Innenhof des Museumsquartiers, rüber ins Kunsthistorische Museum. In die Gemäldegalerie, wo Kühle herrscht, wo es nach Toast und Bohnerwachs riecht, Samtsofas vor Rubens-Gemälden stehen.
Die Präsenz einer Zeit, die nie eingetreten ist
Es war, wie in der Stille durch den Schatten zu laufen, vorbei an Marktständen mit Riesenfischen, biblischen Seeungeheuern, Muscheln, Tentakeln und Panzern, von denen Salzwasser rinnt. Vorbei am fleischigen Körper des trunkenen Bacchus auf dem riesigen, sinnlichen Gemälde der flämischen Barockmalerin Michaelina Wautier, an Vermeers intimen, von subtilem Licht durchfluteten Interieurs. "Warum berührt mich das alles so", fragte ich mich, "während mir, und wahrscheinlich dem Rest der Welt, die Gegenwart so unwirklich erscheint?"
Hauntologie ist ein Begriff, den Jacques Derrida geprägt hat. Heute gilt der französische Philosoph, ähnlich wie Michel Foucault, als godfather der woken, post-strukturalistischen Ideologie, die an allem schuld ist. Doch Derrida hat mit der Hauntologie etwas sehr Interessantes formuliert: die Präsenz einer Zeit, die nie ganz eingetreten ist, das Gespenst verlorener Zukünfte.
Der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher hat den Begriff auf die aktuelle Kultur erweitert. Er beschreibt, wie die Vergangenheit die Möglichkeit von Innovation und Neuheit überschattet, zum Beispiel, dass digitale Technologien des 21. Jahrhunderts mit dem überholten Denken des 20. Jahrhunderts genutzt werden. Es gibt Innovationen und Fortschritt, doch sie fühlen sich nicht wirklich aktuell an, vermitteln keinen Aufbruch. Das 21. Jahrhundert erscheint wie eine Echokammer, in der die alten Melodien der Geschichte nachhallen, anstelle der Symphonien von morgen.
Das ist der Loop, in dem wir leben
Immer noch matt von der Hitze ließ ich mich im Bruegel-Saal auf eine Couch fallen und starrte das Gemälde vor mir an. Ein verschneites niederländisches Dorf im Winter. Das Erste, das ich wahrnahm, war der schneeschwere Himmel. Diese blaugrauen, leicht grünlichen Farbtöne, die man kurz vor der Dämmerung sieht, kalter Dunst, der müde macht. Filigran gemalte kahle Äste ragen in den Himmel, ganz oben auf einem Baum ein verlassenes Nest. In der Ferne eine Backsteinkirche, auf einem weißen Dach die Schatten von Spatzen. Der Dorfplatz unten von Fußspuren übersät, bräunliche, getaute, gefrorene, wieder zugeschneite Erde.
Und etwas Seltsames spielt sich da ab. Hinten eine Kohorte von berittenen Soldaten, im Bildvordergrund stürmen Männer mit Äxten ein Haus, Leute auf dem Dorfplatz laufen panisch hin und her. Dann fiel mein Blick auf eine Frau, deren Baby in dieser Eiseskälte nackt auf ihrem Schoß liegt. Es dämmerte mir, dass es tot ist.
Eine Sekunde später sah ich diesen Kreis von Soldaten, die um Säuglinge herumstehen, mit Lanzen auf sie einstechen. Noch eine Sekunde später erkannte ich, dass überall auf diesem Gemälde Säuglinge weggerissen und umgebracht werden, herumbaumeln, herumliegen wie Puppen oder weggeworfene, blutige Bündel. "So ist es auch heute", schoss es mir durch den Kopf. "Das ist die Hauntologie. Da hilft kein Flehen, kein Bitten, keine Tränen. Das ist der Loop, in dem wir leben."
Die Grausamkeit herunterkühlen
Ich blickte auf "Bethleminischer Kindermord" von Pieter Brueghel dem Jüngeren. Das Gemälde ist die Kopie des gleichnamigen Motivs seines Vaters. Das Original, das heute in Windsor Castle hängt, entstand um 1565, unter dem Eindruck der spanischen Besatzung während des beginnenden niederländischen Freiheitskriegs. Die Spanier versuchten, die calvinistischen Niederlande mit grausamen Gemetzel zum Katholizismus zu bekehren. Die mordenden Soldaten bestrafen ein unbeugsames Dorf. Auf der Kopie in Wien sind sie deutlich als spanische Besatzungstruppen zu erkennen.
Pieter Bruegel dem Älteren erschien sein eigenes Gemälde so grausam, dass er es übermalte. Die Plünderer rauben und töten bei ihm Tiere, wie etwa Truthähne und zerstechen Stoffbündel. Die erstaunliche Kopie seines Sohnes, die einige Jahre später entstand und lange für ein Original gehalten wurde, ist in jeder Hinsicht dunkler, zeigt das Morden sehr detailliert.
Das hat einen merkwürdigen Effekt. Der Himmel, die zugefrorene Natur scheinen außerhalb des Geschehens in einer anderen Zeitrechnung, einer anderen Geschichte zu stehen, betten die menschliche Gewalt still in diese geologische Geschichte ein. Die chirurgische Klarheit, mit der die Maler den biblischen Kindesmord in ihre Gegenwart versetzen, ihn buchstäblich runterkühlen, ist noch fast 500 Jahre später schockierend.
Alle stellen sich die Frage, wie es weitergehen soll
Mit diesem Bild im Kopf lief ich noch am nächsten Tag herum. Das passte hervorragend zur Ausstellung von Karen Archey, die als eine der wichtigsten und ambitioniertesten Kuratorinnen der Gegenwart gilt. Denn alle stellen sich die Frage, wie es in diesen katastrophalen Zeiten weitergehen soll; mit den Galerien, den Kuratoren, den Kuratorinnen, der Kunst. Und natürlich den Institutionen. Das haunting fühlen alle, ob sie es nun sagen oder nicht. Alle spüren, dass dieses Gefühl für eine Zukunft auch in der Kunst verloren ist. Alles sieht immer noch freundlich und fürsorglich aus, während es immer robotischer wird.
Eine Wirkkraft wie auf dem Winterbild von Brueghel stellt sich nicht ein. Wir sehen Kunst und Kultur als Wahrer der Demokratie, obwohl immer mehr Leute im Betrieb Angst vor dem Verlust ihres Arbeitsplatzes haben und sich politisch gar nicht äußern wollen. So gut es geht, wird business as usual gemacht. Die Rechte, die die Institutionen (nicht völlig grundlos) für korrupt, ideologisch verbrämt und elitär hält, will sie zerstören und in einer konservativen, aber libertären Renaissance rebooten. Aber dafür hat sie bislang keine zeitgemäßen oder spannenden Ideen vorgelegt. Außer, dass sich alle nach der Wiederherstellung einer idealisierten Vergangenheit, des bereits Geschehenen sehnen.
Archeys geisterhafte, erst einmal völlig verrätselte Ausstellung bei Croy Nielsen, in der es vor allem um Hüllen, Häute, Körper geht, um Fassaden und Verkleidungen, passt super zur aktuellen geisterhaften Stimmung. "The Shed", das ist der Schuppen, der irgendein Schuppen, ein Verschlag, sein könnte, in dem Tiere stehen: Bullen, Nutzvieh, Gänse, Hühner. Es könnte eine Notunterkunft sein, in der Geflüchtete hausen, oder Joseph und Maria mit dem neugeborenen Jesus, der gerettet wurde. Vielleicht sind wir selbst in diesem Schuppen oder Stall mit den anderen Spezies. Vielleicht wird dort verhandelt, wie es weitergeht, wie wir uns organisieren, wo Nahrung oder Decken herkommen.
Der teuerste Schuppen der Welt
"The Shed" könnte aber auch ein Verweis auf den teuersten Schuppen der Welt sein, das gleichnamige New Yorker Kunst- und Kulturzentrum, das 2019 im Sanierungsprojekt Hudson Yards im Westen Manhattans eröffnet wurde. Das von den Architekten Diller Scofidio + Renfro entworfene Gebäude steht in einem superteuren Areal, in dem superteure Hochhäuser ein the vor ihrem Namen haben, wie The Lofts oder The Spiral. Alles sieht dort wie computergeneriert aus. The Shed erinnert an eine futuristische Riesenmembran oder eine Riesenhandtasche, die Gott gleich neben ein anderes Gebäude hat fallen lassen, das aussieht wie ein Dönerspieß.
Der Stall kostete 500 Millionen US-Dollar, die vorwiegend von privaten Spendern, aber auch aus Steuergeldern aufgebracht wurden. Man nennt ihn auch "The Bloomberg", in Anspielung auf Michael Bloomberg, Ex-Bürgermeister von New York und einer der reichsten Männer der USA. Er spendete still und leise 15 Millionen Dollar. Der Bau, der seine Vision war, umfasst mehr als 7500 Quadratmeter Ausstellungs- und Aufführungsfläche auf sechs Stockwerken, darunter ein Theater mit 500 Plätzen und die riesige Außenhalle.
Jedes Jahr findet hier die New Yorker Version der Kunstmesse Frieze statt, ansonsten wird verpachtet. Im Haus gibt es eine dauerhafte Installation des KI–Künstlers Beeple. Im Oktober gastiert hier Tom Hanks mit der Auftragsarbeit "This World of Tomorrow", ein Stück in dem es, zwinker, zwinker, um einen desillusionierten Wissenschaftler aus der Zukunft geht, der sich nach der Vergangenheit zurücksehnt und eine Zeitreise zur New Yorker Weltausstellung 1939 in Queens antritt, um seine verlorenen Träume zu finden. Loop total, aufgeführt in einer spektakulären Hülle, einer Institution ohne Nachbarschaft.
Orwell trifft Beat-Poesie
Dass Archey in ihrer Wiener Ausstellung versucht, eine Kritik der überholten Institutionen zu formulieren, die nur eine Hülle, ein "Stall", sind, liegt nahe. Von 2017 bis 2025 war sie Kuratorin am Amsterdamer Stedelijk Museum, wo ihr Schwerpunkt zeitbasierte Medien und Performance waren, sie große Ausstellungen mit Hito Steyerl, Rineke Dijkstra oder Marina Abramović gestaltete.
Seit Jüngstem leitet sie die kuratorische Abteilung der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen. 2022 veröffentlichte sie ein Buch "After Institutions", in dem es um Institutionskritik ging, aber nicht um deren Abschaffung, sondern ihr Weiterdenken. Archey sieht die Zukunft in einer "Praxis der Fürsorge", wobei in der krisengeschüttelten Gegenwart der Radius der Institution viel mehr ins Politische und in soziale Infrastrukturen hineinreichen könnte.
Fürsorge oder care sind seit geraumer Zeit Schlagworte im Kunstbetrieb. Das Interessante ist, dass Archeys Ausstellung überhaupt nicht fürsorglich, sondern eher prekär aussieht, dystopisch, winterlich-posthuman. Der Pressetext besteht nur aus einem von der Kuratorin verfassten Gedicht, das ein bisschen nach Beat-Generation, sehr nach Orwells "Farm der Tiere" klingt. Die erste Strophe geht so: "Animals congregate in The Shed:/ Communist pigs and neoliberal swine/ Assemble under one stainless steel roof/ Called a shell".
Ein Cyborg-Monster in der Bürgertumswohnung
Kommunistische und neoliberale Schweine unter einem Dach. Das kommt von einer Frau, die aus dem Inneren der Institution spricht. Als ich sie frage, was sie da beim Dichten getrieben hat, wie das mit der Schau zusammenhängt, erzählt sie nichts von Institutionskritik. Sondern, dass sich ihr Leben mit ihren kleinen Kindern verändert hat, dass Elternschaft im Kunstbetrieb frustrierend ist, dass es in der Ausstellung auch um Geschlechterrollen und diese Frustration geht.
Wir stehen vor einer mechanischen Skulptur der dänischen Künstlerin Nina Beier, die auch bei Croy Nilsen im Programm ist. "Beast" (2024) bildet den Ausgangspunkt und das Zentrum der Schau. Beier hat einem dieser automatischen Tiere, die in den USA als Reitgeräte auf ländlichen Rummelplätzen oder bei Rodeos herumstehen, die Haut abgezogen. Geblieben sind nur die hin und her ruckende, schwarz gespritzte Plastikform und die Mechanik. Auf dem Rücken hat die Künstlerin Plastikcontainer mit Milchpulver für Babys montiert, die durchgeschüttelt werden. Das Riesengerät steht im Salon der ehemaligen Großbürgerwohnung wie ein Cyborg-Monster.
Man kann, wie es Archey andeutet, die psychologische Spannung zwischen männlichen oder mütterlichen Prinzipien, die Gewalt und Entfremdung der modernen Elternschaft erkennen, die eine isolierte, einsame Angelegenheit ist. Ich sehe unter dem Einfluss von Bruegel und "Animal Farm"-Poesie aber etwas ganz anderes: Menschen, die einzige Spezies, die Milch von anderen Tieren trinkt, Domestizierung, industrielle Tierhaltung in Blechverschlägen. Auslöschung. Den Bullen vor der Börse in New York, der mit der Nahrung für verhungernde Babys ein Rodeo reitet.
Die nächste post-feministische Post-Post-Minimal Ausstellung
Jemand, der oder die keine Anhaltspunkte, kein Gedicht hat, könnte denken: Na ja, hier kommt die nächste post-feministische Post-Post-Minimal Ausstellung. Tatsächlich hat Archey Nina Beiers Installation mit Papierarbeiten von Künstlerinnen der feministischen, post-minimalen Avantgarde und einer angesagten Zeitgenossin zusammengehängt.
Da sind die riesigen phallischen Kohlezeichnungen von Judith Bernstein wie "Screw 5" (2014): Hybride aus Schraube und erigiertem Schwanz, die die legendäre New Yorkerin seit 1964 in immer wieder neuen Variationen zeichnet. Die Künstlerin, die Anfang der 1970er die nur von Frauen betriebene A.I.R. Gallery in New York gründete und Mitglied der Guerilla Girls war, lässt die phallischen Formen wie haarige Hochhäuser, penetrante Architekturen, hochwachsen, sich hochschrauben oder wie Maschinen durch die Erde drillen.
Dann ist da eine Arbeit von Lynda Benglis, auch eine bahnbrechende feministische Position aus den 1970ern, die farbige, abstrakt-expressive Malerei in ihren Installationen dreidimensional in den Raum übersetzt. Doch ihr aus Hühnerdraht und handgeschöpftem Papier konstruiertes Spätwerk "Bone-Ribbon" (2015/16) ist ganz untypisch. Ein an der Wand hängender, etwas ausgedörrter Mix aus Bein, Knochen, Behausung, in das die Künstlerin noch Papier reinstopfte, das wie vertrocknete Sehnen oder alte Haut heraushängt.
Empfänglich für die absolute Hoffnungslosigkeit der Gegenwart
Auch die Oberflächen, die die Londoner Bildhauerin Alice Channer in ihrer 2018 entstandenen Serie "Soft Sediment Deformation (Full Body)" auf in Falten gepressten Crêpe de Chine, einen Seidenstoff, druckt, erzeugen die Assoziation von abgelegten Häuten oder supermodernen Fassadenstrukturen. Nähert man sich den Werken, erkennt man rissige Gesteinsformationen, die an gefurchte Gesichter erinnern, Kiesel, die sich wie Schuppen oder Schindeln über den Stoff legen. In ihrer Praxis nutzt Channer Materialien, die von Seespinnenpanzern und Edelstahl bis hin zu pelletiertem und recyceltem Kunststoff oder eben plissierter Seide reichen.
Man kann sich die Künstlerin als Materialistin vorstellen. Man kann Karen Archeys supergenau gehängte und formal ausgeklügelte Ausstellung so ähnlich denken: als eine Sphäre ohne Menschen, ohne Tiere, in der nur noch das Material etwas erzählt. Als eine Welt, in der es zu spät ist, über Fürsorge oder die Institutionskritik der Zukunft nachzudenken. Vielleicht ist das ein kuratorischer Unfall. Gar nicht beabsichtigt von Archey, deren Gedicht sich anhört, als ob sie in Zungen spricht, als ob da etwas rausgerutscht ist, was sie in der Institution gar nicht sagen wollte.
Aber so kann ich ohne Psychologie und Moral auf das Material sehen, wie ein Spatz auf dem Dach eines Hauses im 16. Jahrhundert. Der blickt hinunter auf den Dorfplatz, auf dem Säuglinge geschlachtet werden. Ich kann in diese Welt sehen, wie wir heute in die Welt blicken, auf all die Widersprüche und das Gemetzel. Oder wie ein Alien, der die Überreste unserer alten Welt archäologisch untersucht. Ich kann gleichzeitig die fantastische Malerei aus der Frührenaissance ansehen, die formalen Überlegungen nachvollziehen, die Archey und die Künstlerinnen antreiben. Da ist etwas Ungerührtes, etwas ganz Einfaches, Hartes – das mich auf paradoxe Weise befreit, aus dem Loop holt, soft und empfänglich macht für die absolute Hoffnungslosigkeit der Gegenwart. Und das ist doch mal ein Anfang.
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