Jeremy Shaw in Frankfurt

Sehnsucht nach Übertretung

Jeremy Shaws großes Thema ist die unaufhörliche Lust des Menschen an ekstatischer Auflösung. Auch in seiner Frankfurter Ausstellung verfolgt der Berliner Künstler dieses Motiv – was in der Corona-Zeit umso heftiger wirkt

Jeremy Shaws Schau im Frankfurter Kunstverein dreht sich, wie oft beim 1977 geborenen Kanadier, um Grenzerfahrungen. "Phase Shifting Index" erzählt auf sieben Leinwänden im Stil von TV-Dokumentationen über einzelne Gruppierungen aus verschiedenen Jahrzehnten, die im gemeinsamen Tanzen ein anderes Bewusstsein zu erlagen versuchen.

Die Gruppe der "Zero-Ones" zum Beispiel, ihren Outfits und der körnigen VHS-Ästhetik nach zu urteilen in den frühen 1980er-Jahren aufgenommen, machen robotische Breakdance-Bewegungen, jede Drehung des Kopfes oder Bewegung der Arme und Beine ist von einem maschinenhaften Rucken begleitet. Die Voice-Over-Stimme erzählt, dass der unentschlüsselbare Dialekt dieser Gruppierung von ihrer Maschinen-DNA herrührt, MDNA, das die Zero-Ones seinerzeit gefährlich hoch dosierten.

Im Anthropologen-Duktus wird über jede der Gruppen so berichtet, wie man aus der Zukunft eine kuriose Spezies rückblickend gesellschaftlich und kulturell einordnen würde. Bilder und Text scheinen schlüssig, sind aber schlauer Unfug. Ob hochdosiertes MDNA, die auf Mathematik basierende Weltanschauung des "Alignment Movement" oder die Morgenmeditation der "Reclaimers": Jede der Gruppen ist so gut erfunden, dass es sie ebensogut auch hätte geben könnte, alle Filme sind so perfekt ausgestattet, dass es sich auch um Found-Footage-Material handeln könnte.

Tatsächlich erfand Shaw jedes einzelne Szenario und ließ es nachspielen. "Sie werden gleich sehen, warum ich kein vorgefundenes Material nehmen konnte", sagt er im ersten Stock des Frankfurter Kunstvereins, wo die Arbeit auf mehreren Etagen perfekt installiert ist. Er arbeitete mit Experten für die jeweiligen Szenen zusammen. Für die Hardcore-Tänzer der 1990er-Jahre konnte er selbst einiges an Erfahrung beisteuern, sagt er lächelnd.

In dieser Intensität völlig überrumpelnd

Während die gleichzeitigen Eindrücke sich überlagern, werden die jeweiligen Tanzbewegungen immer eindringlicher: Die esoterischen entrücken mehr und mehr ins Trancehafte, die militärischen wirken kaum noch steuerbar, die Aerobic-Fraktion scheint kurz vor der Verwandlung in die Zombies aus Michael Jacksons "Thriller" zu stehen. Die eigens für jeden Film komponierten Soundtracks fließen ineinander, bis ein housiges Pumpen alle Körper simultan durchzuckt.

Diese Sequenz ist in ihrer Intensität völlig überraschend, auch wenn man schon von ihr weiß. Denn es geht nicht nur um eine unerwartete Pointe der Zusammenführung der unterschiedlichen Narrative, sondern auch um das Erkennen des zutiefst menschlichen Wunsches nach Übertretung.

Wenn diese Gruppen aus der Vergangenheit zu einer Einheit werden, stehen sie einleuchtend exemplarisch für die Menschen heute. Für die Sehnsucht nach gemeinsamen Grenzerfahrungen genau dieser Art, die gerade nicht möglich sind. Auch Jeremy Shaw vermisst es zu tanzen.