Nachruf: Jerry Saltz über Franz West

Der Meister-Mephisto

Gestern starb Franz West, der zügellose österreichische Meister-Mephisto der organischen Skulptur. Seine Werke zeigen exkrementelle Visionen, dämonische Bohnenranken und Sexspielzeug für Kreaturen aus fremden Dimensionen - ein großartiger Antiformalist und Farbenkünstler, der nur 65 Jahre alt wurde.

West wurde in den 70ern bekannt, in einer Zeit als Europäer, geschweige denn Österreicher, kaum Chancen im Kunstbetrieb hatten. Ich erinnere mich undeutlich, dass ich damals ein paar Sachen von ihm gesehen habe und mich nur fragte, was zum Teufel das sei. Für seine mittelgroßen, abstrakten Skulpturen nahm er Pappmaché, Gips, Draht, Holz, Stroh und weiß Gott was noch alles. Obendrauf klatschte er haufenweise weiße Farbe: eine Mischung aus den skizzenhaften, halblebendigen, halbtoten Figuren Giacomettis, den knolligen Konstruktionen des frühen Claes Oldenburg, den zerquetschten Schrottensembles John Chamberlains, Cy Twomblys seltsamen, weißen, anti-klassischen Skulpturen, und dazu kam Wests eigene Verachtung für die Prätention der Hochkultur.

Keine Lust auf anderer Leute Regeln
Es herrschte ein ganz eigenes, rohes Chaos, das aber zugleich irgendwie österreichisch wirkte. Manche der Skulpturen sahen aus wie Mobiliar-Mutanten, Tische, denen insektenartige Genitalien wuchsen oder die sich wie in sexueller Brunst auf allen vieren vorwärtsbeugten. Was auch immer ihre Absicht gewesen sein mag, sie unterschieden sich wild entschlossen von allem, was damals so zu finden war. Wäre de Sade Bildhauer gewesen, würden seine Werke vielleicht so ähnlich aussehen.

Dabei wirkte sein Treiben nie wie wohlfeiler Dadaismus. Er hatte einfach keine Lust auf anderer Leute Regeln und ließ seine Skulpturen schon mal von nackten Frauen durch die Gegend tragen.

Irgendwie hat er die 80er überlebt, obwohl ich zwischendurch auch dachte, er sei bereits gestorben. Das änderte sich allerdings 1992, als er „Auditorium“ auf der Documenta IX präsentierte, eine der eindrucksvollsten, auf sehr schlichte Weise geheimnisvollsten und einflussreichsten Installationen, die ich je gesehen habe. Sie bildete den entscheidenden Einfluss für die Relational Art, für eine Kunst, die sowohl als Werk bestand und zugleich den Betrachter physisch miteinbezog. „Auditorium“ bestand aus 72 aufgereihten Sofas aus Stahlbeton, auf denen Teppiche und einige Schaumstoffpolster drapiert waren. In „Auditorium“ -  ihr Ausstellungsort ist heute ein Parkhaus neben dem Hauptgelände - verwandelte sich die Welt in ein Kino und die Cafészene wurde auf Lounge-Tempo herabgebremst. Bis heute erinnere ich mich daran, wie ich mit meiner Frau auf den halb-bequemen, vielleicht hässlichen, wahrscheinlich schönen Couchen herumlag, auf der Suche nach einer entspannten Position, beim Lunch oder einer kurzen dösigen Ausstellungsauszeit.

Die komplexe Ordnung im Chaos
West hatte damit gleichzeitig eine Skulptur geschaffen und ein Theater eingerichtet, er spielte mit Kunsthandwerk wie Möbeldesign und Weberei, und er choreographierte sogar noch die ständig sich verändernde soziale Situation. Ich war begeistert. Zwei Jahre später stellte die Dia Art Foundation die Skulptur für ungefähr ein Jahr auf ihr Dach, wo sie weiterhin die Kunst und die Erlebniswelt der Leute veränderte. Auch meine. 

Von dort an blieb er ständig präsent, obwohl man allerlei Geschichten hörte, wie er wutschnaubend aus Galerien stapfte, wie er auf Museumsdinners ausfällig wurde oder auf den Tischen tanzte – die teutonische Tour eben. Er bekam große Ausstellungen in Galerien und Museen, und er arbeitete mit anderen exzessfreudigen Künstlern wie seinem verbrüderten Chaos-Gott, dem bereits verstorbenen Jason Rhodes. Auch nackte Mädchen tauchten in seinen Werken auf.

Heute, zum Zeitpunkt seines Todes, ist sein Einfluss enorm. Man darf jedoch sein Werk nicht als Punk oder reine Ablehnung verstehen. West ging es darum, die komplexe Ordnung im Chaos zu entdecken, die Strenge im Durcheinander, und dabei feierte er leidenschaftlich das Es, um sich selbst, seinem Publikum und seinen Objekten den größten nötigen Freiraum zu verschaffen. (Übersetzung: Markus Schneider)

Jerry Saltz ist Chefkritiker des New York Magazine und schreibt regelmäßig für Monopol