Alte Meister, von neuen geliebt

Georg Baselitz über George Stubbs' Bild "Whistlejacket"

George Stubbs "Whistlejacket", um 1762, Öl auf Leinwand, 292 x 246 cm

Künstler sind Pilger. Es gibt Bilder, zu denen kehren sie immer wieder zurück. Georg Baselitz zieht es in die Londoner National Gallery, zu George Stubbs’ "Whistlejacket"

Das Bild ist riesig, man sieht es schon von Weitem, in Fernsicht. Es ist eines der Highlights der National Gallery, und so wird es auch präsentiert – wie Seurats "Die Badenden von Asnières". Eigentlich müsste auf diesem Pferd, so groß und prächtig es gemalt ist, ein Reiter sitzen, ein Feldherr. Aber das Tolle ist, dass dieses Bild eben keine Vorstudie für ein politisches Herrscherbild ist. Es hat absolut nichts mit dieser Art der Malerei zu tun, und das ist sehr sympathisch.

Vor 20 Jahren hing es noch etwas versteckt, damals fiel gar nicht richtig auf, was für ein Highlight es ist. Von George Stubbs kennt man Mappenwerke, anatomische Studien von Pferden. Man fragt sich natürlich, warum er die Anatomie von Pferden so genau festhielt, schließlich war die Pferdeheilkunde sicherlich kein Thema für ihn. Die anatomischen Studien des Menschen dienten wenigstens der Medizin. Doch George Stubbs leistete sich das Privatvergnügen, Pferde in seiner ganz eigenen Ästhetik zu malen. So etwas fasziniert einfach.

Erstaunlicherweise stammt das Bild aus einer Zeit, die in Europa und Deutschland vom Rokoko geprägt war – aber wenn man dieses Bild sieht, erscheint das Rokoko so fern wie nur irgendetwas. Eigentlich ist es sehr klassizistisch, obwohl Stubbs den Klassizismus gar nicht mehr erlebt hat. Stubbs war ein Tiermaler, also ein Maler, der ein klar eingegrenztes Fachgebiet hat. Und wenn man als Maler ein Fachgebiet hat, dann denkt man nicht wirklich über Malerei nach und ist auch dem Zeitgeist nicht so sehr ausgeliefert. Natürlich gibt es Maler, die selbst einen Zeitgeist prägen, was man von Stubbs jedoch nicht behaupten kann. Trotzdem zählt er zu den besonders beliebten Malern.

Er war ein Außenseiter, wie nahezu alle englischen Maler Außenseiter sind. Die Gotik sieht dort anders aus, den Barock gibt es so gut wie gar nicht, das Rokoko sucht man vergeblich und findet es dann in der Karikatur. Stubbs hat dieses Pferd wie eine Ikone gemalt, auf goldenem Grund. Der Goldgrund enthebt den Gegenstand in eine andere Welt, in eine Heiligkeit. Dazu kommt die ungewöhnliche Größe, die das Heilige noch unterstreicht.

Vielleicht ist das Bild deshalb so interessant, weil es so weit entrückt ist. Wenn man sich einer Spezialität widmet, wenn man Hundemaler ist, Katzenmaler, Stilllebenmaler, Seestückmaler oder Vanitasmaler, dann entzieht man sich dem allgemeinen Naturalismus – nicht ganz, aber doch einigermaßen. Tierkunde fällt ja nicht ins Fachgebiet der Kunstmaler, genauso wenig wie Ikonenmalerei. Bei „Whistlejacket“ kommt beides zusammen.

Was man heute bei den jüngeren Malern beobachten kann, ist, dass sie sich immer weniger progressiv bewegen und ihre Quellen immer tiefer in der Vergangenheit, in der Kunstgeschichte, suchen. Das ist zuweilen ganz extrem geworden. Es wird ohne Rücksicht auf die Idee des Fortschritts gemacht, deshalb sehen viele Sachen heute aus wie Jugendstil-Fantasien, Märchenwelten im Harry-Potter-Stil.

Jungen Malern wurde hundert Mal gesagt, dass Fortschritt, anders als in der Medizin und Technik, in der Kunst nicht möglich ist, denn Kunst ist nicht messbar als höher, schneller, weiter. Als guter Künstler muss man sich anders verhalten und etwas erfinden, das weder schneller läuft noch höher springt als das Bild eines anderen Malers. Es muss einfach vollkommen anders sein – genau das ist dann der Fortschritt. Und dieses Bild von Stubbs ist anders, es ist auffallend anders als alle Bilder, die in seiner Nähe hängen, und das macht seine Faszination aus. Das Bild ist ein Solitär, eine Granate, es ist eine echte Bombe.

Es hat einfach das, was ein großes Gemälde ausmacht.