Gilbert & George im Interview

"Das Leben wird nach dem Brexit weiterlaufen wie davor"

Vor 50 Jahren erklärte das Künstlerpaar Gilbert & George sich selbst zur Skulptur - und feierte damit seinen Durchbruch. Ihre lange Karriere fühle sich wie ein einziger Urlaub an, erzählen die britischen Exzentriker im Monopol-Interview. Dennoch haben die beiden noch Ziele: Sie wollen geliebt werden. Und freuen sich auf den Brexit

Vergangene Woche in München: Im Filmmuseum sieht Gilbert & George gemeinsam mit dem Publikum zum ersten Mal eine restaurierte Fassung ihrer Performance "Singing Sculptures" von 1991. Mit dem Film von Philip Haas eröffnet die Reihe "Traumzeit" des "Kino der Kunst", ein Festival, das bildende Kunst mit Film vereint. Am nächsten Morgen sind die beiden Künstler wieder wie aus dem Ei gepellt. Sie tragen zwei Anzüge, die für ihre Verhältnisse in ungewöhnlichem Farbkontrast zueinander standen. Bei unserem Interview im Hotel Bayerischer Hof ist außerdem Filmemacher Haas dabei, der sich über jeden bösen Spruch von Gilbert oder George wegschmeißt vor Lachen

Gilbert und George, Sie sagen gern, die ganze Welt spiegele sich in den Straßen Ihrer Nachbarschaft wider: Spitalfields in Londons East End, mit einer anglikanischen Kirche am einen und einer Moschee am anderen Ende der Straße.
George: Eine deutsche Kirche gibt es da übrigens auch noch.

Wie spiegeln sich die Wirren um den Brexit in Spitalfields? Irgendwas, das Sie benutzen können?
Gilbert: In Spitalfields gab es viele Anti-Brexit-Flyer auf der Straße, aber keine, die wir für unsere Kunst verwenden wollten. Wir vermeiden es, so direkt mit der Parteien-Politik zu tun zu haben. Außerdem glauben wir, dass der Brexit letztlich spurlos an uns vorbeigeht. Das Leben wird genauso weiterlaufen wie davor. Wir wollen wirklich nur endlich freie Menschen werden. Unser kontinentaleuropäischer Kunsthändler hat zu uns gesagt: "Europa wird es ohne Großbritannien viel besser gehen." Dann soll er doch ohne uns zurechtkommen!
George: Wir benutzen das Material von den Straßen eher, wie wir es in unseren "Dirty Words Pictures" von 1977 gemacht haben. Die Schrift-Schnipsel aus der Nachbarschaft, die wir in die Montagen aufgenommen haben, waren etwa: "Fuck. Scheiße. Titte. Schwanz." Das fühlte sich für uns sehr natürlich an. So selbstverständlich, wie dass ein Künstler aus dem Fenster schaut oder nach draußen geht, um Bäume, Landschaften oder Prostituierte zu malen.

Gilbert, Sie haben auch hier in München Kunst studiert. Fanden Sie unsere Straßen ergiebig als Inspiration?
Gilbert: München ist zu bour­geois dafür! (lacht) Hier ist doch die ganze Bourgeoisie Deutschlands versammelt. Wir sagen immer, echte Kunst haben wir damals erst in London gefunden.

Wie halten Sie es als Brexit-Verfechter, Thatcher-Fans und überzeugte Monarchisten überhaupt in Ihrer liberal-hippen Londoner Nachbarschaft aus?
Gilbert: Wir bleiben da aus Trotz wohnen. Wir waren immerhin schon lange vor den Liberalen und den Bangladeshis da.
George: Unsere politische Einstellung wird oft falsch verstanden: Der Konservatismus will in erster Linie für das Individuum und für seine Freiheit dasein, anstatt für die Kollektive; sei es die Gruppe der Ärzte oder der Krankenschwestern. Als Künstler müssen wir doch für den Einzelnen dasein und ihn ansprechen. Das Individuum soll frei sein, morgens aufzustehen, sich in seiner Andersartigkeit zu behaupten und sich fähig zu fühlen, Es soll in der Lage sein, aufzustehen und zu sagen: "Fickt euch doch alle."

Nicht zuletzt wegen Ihres Freiheitsdrangs stehen Sie mit sämtlichen Religionen auf Kriegsfuß. Aber so schillernd, wie Sie Extremismus in Ihren riesigen Fotomontagen verarbeiten, entsteht der Eindruck, dass Sie gleichzeitig fasziniert vom religiösen Eifer sind.
Gilbert: Selbstverständlich sind wir das.
George: Wir sind die einzigen zeitgenössischen Künstler, die sich noch mit Religion befassen. Alle anderen stürzten sich bloß auf abstrakte oder minimalistische Kunst und ignorierten dabei die Religion.
Gilbert: Vor 40 Jahren dachten alle schon voreilig, Kunst über Religion wäre gegessen. Doch dann kam der Islam und hat in Europa und Amerika alles verändert.
George: Ja, selbst die Flughäfen, denn ohne den Islam gäbe es dort keine Sicherheitskontrollen. Das gab es vor 2001 nicht, oder doch? Jede Tageszeitung, die wir in die Hand nehmen, und jedes Fernsehprogramm ist heute beherrscht vom Thema Islam.

Dabei versuchen Sie doch, die Medien auszublenden. Sie haben kein Radio, schauen nur eine einzige TV-Sendung und schenken der Kunst anderer von vornherein keine Beachtung. Immerhin wollen Sie sich selbst rund um die Uhr als "lebendes Kunstwerk" präsentieren, da bleibt wenig Zeit übrig. Sind Sie auch jetzt Kunst, wenn Sie hier mit mir sitzen?
George: Na hoffentlich.

Gibt es Dinge, die Sie sich dafür verkneifen müssen?
Gilbert: Nein, wir wollen gar nichts anderes. Wir haben eine Vision, der wir sehr verschrieben sind. Wir brauchen keine Pause davon und keinen Urlaub. Alle anderen wollen nur vor ihren Jobs davonlaufen, am liebsten nach Thailand, aber nicht wir.
George: Wir sagen immer: Das Leben ist ein einziger Urlaub - Urlaub von dem, was danach kommt. Und wir fahren gut damit. Wir sind nun 75 und 77 Jahre alt und überleben gerade sämtliche unserer Kunsthändler und Kritiker. Manche von ihnen sind auf geradezu unerfreuliche Weise verstorben.

Höre ich da Schadenfreude raus?
George: Unseren Kritikern waren unsere Bilder immer zu komplex und ausgeklügelt. Aber das ist uns mehr als recht, dass sie gegen uns waren. Die breiten Massen lassen sich von Kritikern heutzutage sowieso nicht mehr reinreden. Haben Sie zum Beispiel den Freddy-Mercury-Film gesehen? Kein Kritiker mochte ihn und er war trotzdem ein Erfolg.
Gilbert: Niemand erinnert sich an die Namen unserer Kritiker, sobald sie tot sind. Sie verschwinden in der Bedeutungslosigkeit. Ich denke, die haben ohnehin nur Angst davor, dass ihre eigenen Teenager-Kinder eines Tages nach Hause kommen und plötzlich an der Kunst von Gilbert & George interessiert sein könnten. (lacht) "Daddy, hast du die Gilbert-&-George-Ausstellung schon gesehen? Sie war fantastisch!"
George: Einer unserer schärfsten Kritiker ist vor Kurzem in einem Autounfall gestorben, auf dem Weg zu einem Vortrag über uns, in einer anderen Stadt. Die Notizen, was er gern über uns sagen wollte, fand man noch in seinem Handschuhfach.

Das passiert also mit Ihren Gegnern. Und welche Pläne liegen bei Ihnen so im Handschuhfach rum?
Gilbert: Aktuell arbeiten wir wieder an einer neuen, großen Gruppe von Bildern, sehr aufregend. Wir können Ihnen nicht viel darüber sagen, außer, dass Sie sie wahrscheinlich nicht mögen werden. Eines davon trägt den Titel "Bedwetting".
George: Unsere Mission ist: Wir wollen gewinnen und geliebt werden, wie alle anderen auch.
Gilbert: Wir sind noch nicht ganz da angekommen, aber das wird schon noch!

Einen weiten Weg sind Sie bereits gegangen seit Ihren "Singing Sculptures": Sie zwei, wie Sie mit metallischer Schminke in Dauerschleife ein Ständchen singen. Das wird bald 50 Jahre alt. Die beiden Skulpturen gaben damals den Song "Underneath the Arches" über zwei genügsame Obdachlose zum Besten. Was würden sie wohl heute singen?
George: Das gleiche natürlich. Die darin beschriebene Welt ist in London immer noch so vorhanden: Das Hotel Ritz steht noch da, die Brückenbogen gibt es noch und es wimmelt dort nach wie vor von Vagabunden - auch wenn die heute jünger sind. Und auf Drogen statt auf Alkohol.