Whitechapel Gallery

God save the Dramaqueen

London feiert die Malerin Alice Neel mit einer großen Retrospektive: Respekt für eine ernsthafte Künstlerin, deren erfolgreiches Spätwerk nicht viel mit der Sentimentalisierung zu tun hat, die es begleitet

Aus ihrem Gemälde „Geoffrey Hendricks and Brian“ von 1978 schauen zwei Männer, vor ihnen ein Stillleben, eine Schale voll Obst. Eine Mango oder Avocado ist in unnatürlichem Smaragdgrün gehalten, das Bild findet seine Balance zwischen dieser Farbe und der Augenlinie der beiden Männer. Als eine Art Cartoon, der etwas Charakteristisches von zwei Unbekannten einfängt, wirkt die Arbeit sehr ansprechend. Und sie besitzt auch eine eigene Persönlichkeit, eine innere, rein abstrakte Struktur. Das Ergebnis: ein wunderbar überraschendes Werk.

Alice Neel, 1900 in Pennsylvania geboren, verbrachte ihr Leben in New York, wo sie 1984 starb. Viele Jahrzehnte lang blieb sie weitgehend unbekannt. Als sie schließlich, zumindest in den USA, zur gefeierten Künstlerin wurde, war sie schon über 70. In dieser Zeit setzte sie die feministische Kunstkritik durch, zugleich hatte sie zu ihrem Stil gefunden. So war ihr Erfolg etwas willkürlich – und vollkommen verdient.

„Painted Truths“, die große Retrospektive, die jetzt von Houston in die Londoner Whitechapel Gallery gereist ist, setzt weit früher ein. Das älteste Bild stammt aus dem Jahr 1936. Damals porträtierte Neel vor allem die linke Gewerkschafts- und Künstlerszene in Greenwich Village, später die Einwanderergesellschaft Spanish Harlems, wohin sie sich zurückgezogen hatte. In den 60ern näherte Neel sich der Kunstwelt wieder an. Nun erst, mit einem Bildnis von Robert Smithson (1962), damals noch ein unbekannter abstrakter Expressionist, lebt die Ausstellung. Bis dahin war eine zeichenartige, grafische Kunst zu sehen, die Effekte der klassischen modernistischen Malerei rein ornamental benutzt.

Um 1970 kommt die Künstlerin zu sich
Das Smithson-Porträt ist anders. Die Farbe schäumt mit ganz eigener Energie, während sie sich mit der Figürlichkeit verbindet. Noch ein paar Jahre dauert es, bis die Wucht jenes Gemäldes zu einer Sprache wird: Um 1970 kommt diese originelle, bewundernswerte Künstlerin zu sich.

Das Klischee von ihrer Malerei beruht auf der Vorstellung, dass sich Gefühle, Qualen auf die Leinwand ergössen – daraus ist geradezu ein Kult um Alice Neel entstanden. Doch wer sie so sieht, bewundert in Wahrheit nur ein nicht besonders bemerkenswertes Cartoon-Handwerk. Mein Fazit dieser Schau lautet eher: Respekt für eine ernsthafte Künstlerin, deren erfolgreiches Spätwerk nicht viel mit der Sentimentalisierung zu tun hat, die es begleitet.

In dem Dokumentarfilm über Neel, den ihr Enkel Andrew drehte und der im Kino der Gallery läuft, erzählt Neel vor der Kamera, die Aufteilung der Leinwand sei für sie das Interessanteste an der Malerei. Sie sagt auch, es sei ebenso spannend, das innere Wesen des Modells zu vermitteln oder eine Vorstellung der Zeit, in der das Bild entstand. Aber es ist bezeichnend, dass sie den abstrakten Gedanken zuerst erwähnt.

Sympathischer Prä-Yuppie-Schmutz
Wollte ich die Gestaltung des Gemäldes „The De Vegh Twins“ (1975) herzlos auf den Punkt bringen, klänge das so: differenzierte Wiederholung plus Farbintensität; weiße Strumpfhosen, rote Kleider, weiße Kragen, schwarzes Haar; die Hintergrundfarben variieren jene im Vordergrund jeweils gedämpfter oder kräftiger. Ein sehr eindringliches Werk, das sich immer wieder betrachten lässt. Nicht weniger intensiv als alle Alice-Neel-Porträts Erwachsener.

Bei ihnen haben wir durchaus das Gefühl, die Menschen tatsächlich zu kennen. Eine historische Zeit heraufzubeschwören hat außerdem nichts Triviales. Wie reizvoll, in eine Nichtdesignerwelt zurückgetragen zu werden, in sympathischen Prä-Yuppie-Schmutz! Doch die Kinder, die in den „De-Vegh-Zwillingen“ dargestellt sind, besitzen keine Persönlichkeit. Trotzdem ist das Bild ein erstaunlicher visueller Triumph und sein Drama prachtvoll formal.

Auch im Porträt Andy Warhols von 1970 findet sich diese schwankende, unberechenbare Balance zwischen Cartoon und ab­strakter Konstruktion. Warhols von Natur aus schlaffer Körper und die unnatürlich schroffe Narbe der Schussverletzung durch Valerie Solanas zwei Jahre zuvor werden konterkariert von Neels mäanderndem Strich und der Art, wie sie den Bildraum fragmentiert lässt: Wir können nicht recht sagen, wo wir uns emotional befinden und dem Werk keine stereotype Interpretation aufzwingen. Wir bleiben im Unklaren.
Wie reflektiert war Alice Neels Kunst? Wo sie plump wirkt, handelt es sich nur um ein Element eines Ensembles von Effekten. Solche Grobheit spielt Neel (so wie Raffinesse) dort aus, wo es notwendig scheint. Aber ihr Ansatz unterscheidet sich von Bild zu Bild. Jede Formelhaftigkeit fehlt. Neels Gemälde sind taumelnde Formationen loser Teile – mit einer mächtigen Energie, die auf einer bewussten Lockerheit beruht, die naiver Kunst vollkommen fremd ist.

Nicht realistisch korrekt
Die große Verschiedenheit einzelner Komponenten entzückt. „Jackie Curtis and Rita Red“ (1970) stellt ein gutes Beispiel dar. Ein schematisches Kritzelsymbol als Arm mit einem breiten Band aus blauer Farbe; es folgt schwarzen Umrisslinien, die als Zeichen für Schattierung dienen.

Aber die Finger wurden modelliert und die Gesichter der beiden Warhol-Superstars sogar höchst detailgetreu ausgeführt. Nicht realistisch-korrekt, sondern gerade genau genug für den dramatischen Effekt: Die Wölbungen und Bergkämme, die Abhänge und Hügel ihrer Züge verrutschen in einem rhythmischen Arrangement, sodass wir glauben, was wir sehen. Und alles strotzt vor Charakter: die Modelle, das Gemälde – und die Malerin.  

(Aus dem Englischen von Markus Schneider)

Whitechapel Gallery, London, bis 17. September