Wie kann Kunst nach der Katastrophe aussehen? Ausgehend von dieser Frage bespielen in den kommenden Wochen 37 armenische und internationale Künstlerinnen und Künstler das Berliner Gorki-Theater, das Neue Palais und einen benachbarten Kiosk. Die erste Kunstinstallation begegnet einem schon vor dem Betreten des Gebäudes. Anahit Hayrapetyan zeigt in ihrer zwischen 2008 und 2018 entstandenen Fotoserie "Take Me Home" ihre Familie in Arzach vor der Vertreibung 2023 und setzt damit den Bezugsrahmen für die Gruppenausstellung.
Mit dem Ende des Kriegs in Arzach, auch bekannt als Bergkarabach, wurde die Region 2020 Aserbaidschan zugesprochen. 2023 vertrieb Aserbaidschan alle Armenierinnen und Armenier, die nahezu die gesamte Bevölkerung Arzachs ausmachten, in ihr vermeintliches Heimatland. Diese Erfahrungen oder eben "Nachwehen" von Zerstörung und Vertreibung als kollektive Erfahrung arbeiten die vorwiegend jungen Künstlerinnen und Künstler in der von Vigen Galstyan kuratierten Schau auf.
In der Garderobe zeigt Karen Mirzoyan eine fotografische Serie von Autos im Moment der Überquerung der Grenze von Aserbaidschan nach Armenien. Das Fahrzeug wird zum Symbol für einen Übergang. Piruza Khalapyan beschreibt den Moment der Vertreibung mit der Fotografie einer brennenden Tür: "The Door to Hell".
Alltagsobjekte als Reliquien
Vom Feuer erzählt auch das Werk von Angela Hovakimyan, die ein weißes Laken inmitten einer traditionellen Brandrodung bemalte. Bei genauerem Hinsehen sind die rußigen Reste als Erinnerungen an die Flammen zu erkennen. Die Fotografin Khalapyan macht die Reste der Zerstörung zu Kunstwerken. In ihrer Fotoserie "Fragmented Memory" werden zurückgelassene Alltagsobjekte zu sakral fotografierten Reliquien.
Den Pariser Künstler Garush Melkonyan beschäftigen eben diese Zeugnisse der Erinnerung. In seiner Arbeit "Cosmovisión" sendet er zwei Wesen einer womöglich außerirdischen Spezies nach Armenien und lässt sie nach den Spuren der Menschen suchen. In einer Science-Fiction-haften Videoinstallation wandeln sie durch Landschaften und Gefängnisse und besuchen Erinnerungsorte. Fragwürdig, was ihr Eindruck gewesen wäre, wenn sie die Baustelle der größten Jesus-Statue der Welt auf dem Berg Hatis besichtigt hätten, die die Fotojournalistin Ani Gevorgyan in die Ausstellung bringt. Eine Folge des Kriegs ist die neue Welle von Christlichkeit in Armenien, die sich seit 2020 im Versuch manifestiert, die höchste Statue des Heilandes weltweit zu errichten.
Die Künstlerin Kima Gyarakyan antwortet mit einem frechen Ikonoklasmus und bestickt Schlüpfer mit Schamhaaren, Jesus oder einem Kirchengebäude. Ihre Arbeiten der "Spiritual Clothing"-Serie sind im Kiosk neben dem Theaterhaus ausgestellt, der aktuelle Themen der armenischen Gesellschaft behandelt. Valentina Mazloumian hat in ihrer Arbeit “We all are tired” universelle weibliche Erfahrungen auf ein langes weißes Tuch gestickt. Ermüdet ist sie zum Beispiel von ihrem Uterus, deinem Ego, Traditionen und open calls. Vermutlich ist es kein Zufall, dass sie für ihre Arbeit eine weiblich assoziierte Technik gewählt hat, die viel Geduld erfordert.
Kim Kardashian, die berühmteste Armenierin der Welt
Natürlich darf bei einer Schau über armenische Kunst nicht die bekannteste Vertreterin der Region fehlen. Genau: Kim Kardashian, gemalt von Davit Kochunts. 2015 besuchte sie Armenien, posierte vor der "Mother Armenia" und kritisierte die bis dato ausgebliebene Anerkennung des Völkermords im Jahr 1915. Damit nicht genug, ist über Kim K. während des Festivals auch noch eine Bühneninszenierung zu sehen.
Wenn man das Gelände verlässt und kurz neben der Straßenbahnhaltestelle innehält, begegnet einem das letzte Werk des Parcours: Das "How-To-Manual: A Monthly Salary" der Künstlerin Astghik Melkonyan war zuletzt 2011 im armenischen Pavillon auf der Venedig-Biennale zu sehen und ist jetzt in überarbeiteter Form Teil der Ausstellung. So kann man beim Warten auf die Begleitung ein paar Lebensweisheiten für das kosmetische "Glow-up" ("Get your friend to cut your hair at home"), den nächsten Geburtstag ("Check for gifts that can be regifted") oder die nächsten Kürzungen im Kulturetat ("resort to stealing") abgreifen.